„Es ging nicht eine Warnsirene in der Nacht“ "Man fühlt sich nicht nur hilflos, sondern vergessen" – Leserbericht aus dem Hochwassergebiet

Ein Leserbericht von Martina Laurent

Erst einmal vielen Dank für die Veröffentlichung meines ersten Leserbriefes. Es war nicht einfach, ihn zu schreiben und dann überhaupt mit dem maroden, nur zeitweise funktionierendem Handynetz aus dem vierten Stock eines Wohnhauses zu senden. Die Alternative ist: Man fährt direkt zu einem Handymast, um etwas Empfang zu haben. Allen Lesern, die unsere katastrophale Situation anzweifeln, sei gesagt: Es ist kaum besser geworden. Aber es regnet nicht mehr. Inzwischen packen wir dort viel mit an, wo Hilfe benötigt wird.

Jeder hier leistet irgendeinen Beitrag, um der Gemeinschaft zu helfen. Tage nachdem wir überflutet wurden bietet sich überall ein Bild des Grauens. In vielen Orten ist immer noch kein Strom vorhanden oder warmes bzw. sauberes Wasser. Die Menschen räumen freigegebene Häuser aus, es stinkt überall und Sperrmüll säumt die Straßen und Bürgersteige. In den Feldern liegen mitgerissene Autos, Mülltonnen und Unrat. Alles ist verschlammt.

Viele Straßen sind nicht befahrbar und viele sind einfach weggebrochen. Unterführungen stehen immer noch unter Wasser. Dass die Katastrophe vorhersehbar war, habe ich in meinem letzten Brief bereits bemerkt. Es wurde ja auch schon in den Medien erwähnt. In NRW mache ich ganz klar Minister Reul, zuständig für Inneres, den Vorwurf, nicht gehandelt zu haben. Herrn Seehofer muss ich ausdrücklich widersprechen – das Frühwarnsystem hat NICHT funktioniert. Wenn wir vor dem Hochwasser gewarnt worden wären, in Odendorf acht Meter am höchsten Punkt, wären wir früher evakuiert worden oder hätten Warnung über Funk, Fernsehen oder Internet erhalten. Es ging nicht eine Warnsirene in der Nacht. Die einzigen Sirenen, die ich hörte, waren die der Rettungskräfte. Meine App meldete nur Starkregen. Das Hochwasser ist weitergezogen. Die Rettungskräfte ebenfalls.

Wir haben jetzt keine Unterstützung mehr und helfen uns selbst. Die nassen Häuser und Trümmer sind jetzt unser Problem. Nun fühlt man sich nicht nur hilflos, sondern vergessen. Die Bundeswehr bewacht gesperrte Orte unter der Steinbachtalsperre mit Maschinengewehren. Es sind immer noch die Bauern und Lohnunternehmer, die pumpen. Wer Facebook hat, teilt mit, wo Hilfe gebraucht wird, und da gehen wir hin. Morgen wird der nächste Keller aufgeräumt.

Ich möchte noch einmal die Evakuierung des total überfluteten Odendorf ansprechen. Nachdem ich mit Hilfe meiner Schwester und meines Schwagers nach zwei Tagen meine Kinder gefunden habe und die Schwiegermutter meines Sohnes, die wahrlich eine halsbrecheriche und lebensgefährliche Flucht hinter sich hatten, berichteten diese von der Nacht in den Fluten. Das Haus war bis zum Speicher geflutet, es liegt direkt am Orbach in der Orbachstrasse. Aus dem Speicher gelang ihnen auch die Flucht über das Dach.

Die Orbachstrasse wurde z.B. überhaupt nicht evakuiert. Menschen verbrachten die Nacht bei Starkregen und Kälte auf den Dächern ihrer Häuser, eingewickelt in Müllsäcke. Es flogen von Zeit zu Zeit Hubschrauber über sie hinweg. Die Suchscheinwerfer waren nicht eingeschaltet. Man gab vom Dach aus mit Taschenlampen SOS-Signale … reagiert wurde nicht. Sie hörten grausame Schreie von Menschen und Tieren, das tosende Wasser unter sich, der Regen von oben und alles war stockdunkel. Anscheinend waren ortsunkundige Helfer vor Ort, denn anders kann man sich nicht erklären, warum man vergessen oder übersehen wurde … der WDR spielte Musik.

Die Talsperren hier sind für den Tourismus immer prall gefüllt, aber wie sich herausstellt, unkontrolliert.

Am Wochenende hatten wir dann Katastrophen-Tourismus. Man, muss das schön sein, sich an der Katastrophe zu ergötzen. Und es herrschte umgehend Plünder-Tourismus. Sobald das Wasser etwas abgelaufen war, kamen und kommen immer noch Menschen mit Kleinbussen und Transportern, durchsuchen Häuser und nehmen mit, was brauchbar erscheint. Sachen, die vor der Tür zum Trocknen stehen, werden einfach eingeladen und mitgenommen. Was ich diesen Individuen wünsche, möchte ich nicht öffentlich äußern.

Und es herrscht Wahl-Tourismus. Wir haben zwar keine Ahnung, wie das den Betroffenen hilft. Egal, mit wem man spricht: Niemand möchte jetzt Politiker hier sehen, die auf unserem Rücken Wahlkampf machen. Als Frau Merkel in Schuld war, einem extrem betroffenen Ort, und von Klimawandel sprach, widersprach ihr der Bürgermeister: Hochwasser gab es bereits vor dem erwähnten Klimawandel. Das Gesicht Merkels wurde daraufhin nicht gezeigt. Schön für Frau Dreyer, dass sie sich mit ihrer Krankheit mit einem Elektromobil gezeigt hat. In Schuld konnte das Ding aber nicht geladen worden sein! Ich kann Ihnen aber nach vielen Gesprächen hier berichten, dass hier von einem kollektiven Versagen derer gesprochen wird. Und Stimmen von uns bekommt hier niemand von denen. Fünf Tage nach dem Unglück fragen wir uns immer noch, wie die versprochene Hilfe aussehen soll und wie die Spendengelder verteilt werden. Wie sie wo aufgeteilt werden. Wo man die beantragen kann.

Das Haus in Odendorf ist eine Ruine. Alles, was darin war, ist weg oder zerstört, unbrauchbar. Die Fahrzeuge sind schrottreif, alles an Möbeln, Elektronik und Ausstattung ist kaputt. Es gibt einige wenige, die verstanden haben, was Soforthilfe ist. Die Telekom und Vodafone haben das Datenvolumen kostenlos auf bis zu 100 Gigabyte für Vertragsinhaber erhöht. Bei Drillisch, O2 oder 1&1 hat man Pech, wenn man seine Gigabyte verbraucht hat. Dass dies die einzige Möglichkeit ist, hier irgendwie an Infos zu kommen, hat man dort anscheinend nicht verstanden.

Wir müssen jetzt abwarten und anpacken.

Obwohl alle müde und am Ende sind, können wir es nicht so lassen, wie es ist …

Danke allen für Euer Mitgefühl und die Hilfe von den freiwilligen Helfern. Ich habe keine Ahnung, wie man Euch das vergelten kann. Und verlasst Euch nicht auf die Regierung! Wer sich auf unsere Regierung verlässt, ist verlassen.

Das Versagen ist in den Anlagen dokumentiert. Die Fotos oben sind aus Odendorf, aufgenommen um 19.00 Uhr am 14.7.2021. Da bestand schon nicht mehr die Möglichkeit, den Ort zu verlassen. Keine Hilfe vor Ort oder irgendeine Warnung …

Normalerweise bitte ich an dieser Stelle um Unterstützung für meine Seite. Heute möchte ich Sie bitten, den Opfern des Hochwassers zu helfen. Hier drei Spenden-Möglichkeiten:

  • Diakonisches Werk Rheinland-Westfalen-Lippe e.V. / Diakonie RWL DE79 3506 0190 1014 1550 20 Stichwort: Hochwasser-Hilfe. Weitere Spendenmöglichkeiten: http://www.diakonie-rwl.de/hochwasser-hilfe
  • Diakonie Wuppertal: Diakonisches Werk Wuppertal; Stadtsparkasse Wuppertal; Iban DE31 3305 0000 0000 5589 24; Bic WUPSDE33XXX, Stichwort „Hochwasser“.
  • Gemeinschaftsstiftung für Wuppertal; IBAN: DE43 3305 0000 0000 1157 09; BIC/SWIFT-Code: WUPSDE33XXX
Gastbeiträge und Leserbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Bild: privat
Text: Gast

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