Kanzlerin erklärt Kritiker zum Fall für den Psychologen Griff in die Giftkiste der Vergangenheit

1981 wagte der sowjetische Psychiater Anatoli Korjagin das Undenkbare. In der westlichen Wissenschaftszeitschrift „The Lancet“ machte er den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion bekannt. Unter dem Titel „Patienten gegen ihren eigenen Willen“. Ihm passierte daraufhin genau das, was er beschrieben und beklagt hatte: Er wurde eingesperrt und selbst mit antipsychotischen Mitteln zwangsmedikamentiert.

Korjagin hatte eine der schrecklichsten „Traditionen“ im Sozialismus dokumentiert – die er durch seine eigene Arbeit als Psychiater kennengelernt hatte: Dass die Machthaber systematisch Andersdenkende und Dissidenten für psychisch krank erklärten. Sie wurden damit aus der Gesellschaft ausgesondert, aller Rechte beraubt und diskreditiert. Man stellte sie in den Anstalten ruhig. Mit Medikamenten. Und auch mit körperlichen Maßnahmen. Die „Pathologisierung“ von Andersdenkenden, also dass man Menschen, die Kritik an den Zuständen im Lande üben, für psychisch krank oder schlicht verrückt erklärte, ist eines der finstersten Kapitel in der Geschichte des Sozialismus.

Eine der wichtigen Lehren aus der Geschichte ist deshalb, Menschen mit abweichenden und unbequemen Meinungen nicht als psychisch krank oder verrückt hinzustellen. Umso mehr sollte sich dessen jemand bewußt sein, der aus einem System stammt, in dem genau diese schreckliche Methode üblich war. Auch und umso mehr, wenn jemand in diesem System den Herrschenden näher war als den Dissidenten. Wie unsere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU). Umso ungeheuerlicher ist es, das sie nun in ihrem Format „Die Bundeskanzlerin im Gespräch“ an die finstere Tradition aus totalitären Zeiten anknüpft.

In einem Auszug aus der Sendung, die das ZDF verbreitete, heißt es schon in der Ankündigung in der Unterzeile: „Merkel: Verschwörungserzählungen sind Angriff auf unsere Gesellschaft.“ Sodann sagt die Christdemokratin, die ihr politisches Handwerk als Sekretärin, also Führungskader bei der sozialistischen Jugendorganisation FDJ in der DDR gelernt hat: „Das übliche Argumentieren hilft da nicht. Und das wird vielleicht auch eine Aufgabe für Psychologen sein oder für … also wir werden da noch sehr viel erforschen müssen: Wie verabschiedet man sich eigentlich aus der Welt der Fakten und gerät in eine Welt, die sozusagen eine andere Sprache spricht und die wir mit unserer faktenbasierten Sprache gar nicht erreichen können? Es gibt ja dann eine richtige Diskussionsverweigerung: Man arbeitet nicht auf einer Ebene. Sie aus dieser Welt wieder in eine Welt zu holen, wo wir uns gegenseitig zuhören können, das wird sehr, sehr schwer sein, und da muss man auch noch mal verstehen, was soziale Medien zum Teil machen, was diese Räume machen, in denen man eigentlich nur sich bestätigt fühlt und hinreichend viele Leute hat, die einen unterstützen, die aber gar keine Verbindung mehr zu anderen Räumen haben. Ich habe darauf die perfekte Antwort nicht, aber das beschäftigt uns in der Politik auch sehr.“

Damit alle auch verstehen, um wen es geht, und gegen wen sich Merkels Worte richten, wird dann vom ZDF auch noch ein Untertitel eingespielt: „Merkel spricht vor allem über die „Querdenken“-Bewegung, die die Gefahr durch Corona leugnet und gegen die staatlichen Maßnahmen hetzt.“

Was Merkels Aussagen zur Blasenbildung und Diskussionsverweigerung angeht, kam hier in den Kommentaren der Hinweis, da handle es sich wohl um Projektion: Einen Abwehrmechanismus, bei dem die eigenen psychischen Konflikte auf andere Personen oder Gruppen abgebildet werden, man also anderen unterstellt, was in Wirklichkeit auf einen selbst zutrifft. Aber lassen wir das – denn wir wollen es nicht Merkel gleich tun und die Psyche anderer zum Thema machen. Stattdessen veranschaulichen wir uns lieber die Worte der Kanzlerin: Sie behauptet, ihre Kritiker würden sich „aus der Welt der Fakten“ verabschieden, seien für Vernunft nicht mehr erreichbar, und seien ein Fall für den Psychologen.

Das ist DDR-Denke pur.

Und Gift für die Demokratie. Für die Meinungsfreiheit. Für den Pluralismus.

Nach der Diskreditierung von Andersdenkenden als „Rechte“, was inzwischen als Synonym für „Nazis“ eingesetzt wird – auch das eine alte Methode aus dem Sozialismus –  ist nun von ganz oben die nächste Stufe der Eskalationsspirale eröffnet: Die Pathologisierung von Kritikern.

Ganz neu ist das nicht. Aber neu ist, dass es derart offenkundig und unverhohlen von ganz oben kommt. Auf etwas tieferer Ebene habe ich damit selbst meine Erfahrungen. Wenn auch in sehr milder Form. Wegen meiner Kritik an Angela Merkel warf mir deren früherer Sprecher Georg Streiter öffentlich auf facebook vor, nicht das nötige Vertrauen in die Regierung zu haben. Das ist ein erstaunlicher Vorwurf an einen Journalisten. Vor allem von jemandem, der kurz zuvor noch in bzw. bei der Regierung saß. Ich bin der Ansicht, wir, Journalisten, dürfen eben kein Vertrauen in die Regierung haben – denn wir sind deren Kontrolleure. Offenbar gilt so eine Einstellung bei Merkel und ihren Mitstreitern wie Streiter als altmodisch. Streiter attackierte meine Kritik an Merkel mit den Worten: „Auch als Journalist hat man Verantwortung“. Ja, aber welche? Merkel nicht zu kritisieren und ihr zu vertrauen? Merkels Ex-Sprecher warnte mich noch, „welche Funktion die Verbreitung von Zweifel und Misstrauen auch haben kann“ – nämlich Propaganda. Man muss sich diese Warnung auf der Zunge zergehen lassen.

Küchenpsychologie gegen Kritiker

 
Streiter versuchte sodann, meinen Mangel an Vertrauen in die Kanzlerin küchenpsychologisch aus meiner Biographie zu erklären: „Wer lange in Staaten wie Russland gelebt hat, neigt offenbar dazu, nichts und niemandem auch nur ein bisschen zu vertrauen. Dieses Misstrauen sollte man dann aber nicht auf alle anderen übertragen.“ Was da zwischen den Zeilen mitschwingt, ist der Vorwurf paranoid zu sein. Also der Versuch, den Kritiker für verrückt zu erklären – wenn auch in diesem Fall dezent und durch die Blume. Die Attacken von Streiter erlauben exklusive Einblicke, wie im engen Umfeld von Merkel und bei deren Presseleuten offenbar über Journalisten und Journalismus gedacht wird, und was für ein Umgang mit Journalisten dort herrscht: Die haben Vertrauen zu zeigen und Zweifel und Misstrauen zu unterlassen. Das erinnert mehr an unfreie Systeme als an eine pluralistische Demokratie.
Merkels Auftritt erinnert mich an die Aussage eines der früher ranghöchsten russischen Politikers, der die kommunistischen Jugendverbände ebenso wie Merkel von innen kennt, im privaten Gespräch: „Es war ein fataler Fehler, jemanden, der eine sozialistische Kaderschule durchlaufen hat, in einer westlichen Demokratie ganz nach oben zu lassen, ihr naiven Westler seid der Denkweise, dem Zynismus und den Methoden, die den Leuten dort eingebleut wurden, einfach nicht gewachsen. Jetzt erlebt ihr gerade das Resultat!“
Ganz egal, wo man politisch steht, ob rechts, links oder in die Mitte: Bei jedem aufrechten Demokraten müssen spätestens mit den Worten der Kanzlerin im ZDF die Alarmglocken läuten. Wenn heute Menschen mit der einen Meinung als psychisch krank dargestellt werden, kann es morgen die anderen treffen. Politischer Streit darf und muss heftig sein: Aber er muss auf so einen Griff in die Giftküche der diktatorischen Vergangenheit verzichten. Es wäre undenkbar gewesen, dass ein Konrad Adenauer, ein Helmut Schmidt, ein Helmut Kohl oder auch ein Gerhard Schröder ihre Kritiker öffentlich als psychisch krank verleumden. Und diese Hetze dann auch damit rechtfertigen, die so Diffamierten würden hetzen. Es ist Zeit, diesem totalitären Denken von ganz oben eine entschiedene Absage zu erteilen – quer über die politischen Grenzen hinweg!

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Bild: PhotoMik/Shutterstock
Text: br


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