Leben wir in einer Diktatur? Nein! Schlimmer! Meine Neujahrsansprache an die Kanzlerin

Jedes Jahr beglücken uns die Regierenden mit ihren Neujahrsansprachen. Ich finde: In einer Demokratie darf, ja muss das auch mal umgekehrt sein. Deshalb habe ich hier eine Neujahrsansprache an Merkel gesprochen – in der Hoffnung, mit meinen Worten auch vielen von Ihnen aus dem Herzen zu sprechen und damit auch stellvertretend für Sie das Wort zu erheben.

Sehr geehrte Frau Dr. Merkel,

in Ihrem Amtseid haben Sie geschworen, dass Sie Ihre „Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen“.

Ihre Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie einen großen Teil Ihrer Kraft den nicht „schon länger hier Wohnenden“ widmen, weniger den Nutzen der Deutschen mehren als den internationaler Organisationen, dass Ihnen das Abwenden des Schadens schlecht gelingt und es auch mit der Wahrung von Gesetzen und Grundgesetz nicht funktioniert.

Wie immer man zu einem hastig geprüften Impfstoff stehen mag: Sie sehen ihn als Ausweg aus der schrecklichen Situation, in der sich unser Land befindet. Und haben dennoch mit ihrem Beharren auf einer EU-weiten Lösung verhindert, dass Deutschland so schnell und so große Mengen Impfstoff bekommt wie andere Länder.

Gigantisches Dilemma

Selten wurde die Sollbruchstelle Ihrer Politik so deutlich wie in der Impfstoff-Frage. Die Ihnen zu großen Teilen treu ergebenen Medien verschweigen das gigantische Dilemma. Wohl, weil es die Leute aufwühlen würde. Und zu politischen Verschiebungen führen könnte. Aber Verschweigen löst die Probleme nicht. Es macht sie nur größer. So groß, dass sie sich irgendwann lawinenartig zu entladen drohen.

Auf Ihrer Sommerpressekonferenz 2018 sagten Sie: „Für die Bundesregierung kann ich sagen, dass wir Recht und Gesetz einhalten wollen werden und da, wo immer es notwendig ist, auch tun.“

Der Sinn von Recht und Gesetz ist, dass sie immer eingehalten werden sollten. Da, wo sie nur dann eingehalten werden, wenn es die Regierenden für notwendig halten, wird aus Recht und Gesetz schnell Willkür.

Die Anzeichen dafür werden leider in Deutschland unter Ihrer Regierung immer heftiger.

Auf den Bundespressekonferenzen haben Ihre Sprecher in den vergangenen Monaten fast wöchentlich die Demonstranten in Weißrussland gelobt. Am 21. Dezember sagte dort etwa Ulrike Demmer: „Trotz massiver Repressionen haben am gestrigen vierten Adventssonntag tausende Belarussinnen und Belarussen friedlich und mutig für ihre demokratischen Rechte und für Veränderungen in ihrem Land demonstriert. Daran kann man sehen: Das Streben nach Freiheit und Demokratie lässt sich nicht mit Gewalt ersticken. Das Regime hat jegliche Legitimation verspielt, indem es Woche für Woche die demokratische Idee verrät. Es schlägt zu und verhaftet, statt zuzuhören. Die Maxime des Regimes scheint zu lauten: Selbsterhalt um jeden Preis.“

Brutale Polizei-Taktik

Frau Dr. Merkel, merken Sie nicht, auf welch dünnes Eis Sie sich damit begeben? In Deutschland werden reihenweise Demonstrationen verboten, Polizisten werden laut Insidern regelrecht aufgehetzt gegen friedliche Demonstranten und manche traktieren diese dann brutal, auch wenn sie schon am Boden liegen, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit wird faktisch außer Kraft gesetzt, abgesegnet wird das vom Verfassungsgericht unter Vorsitz eines Richters, der noch vor kurzem CDU-Bundestagsabgeordneter war und dessen Ernennung in Karlsruhe Sie durchgesetzt haben.

Als Osteuropa-Kenner liegt es mir fern, Weißrussland (ich bin gegen Orwellsche Sprachchirurgie und deshalb gegen das Wort „Belarus“) mit der Bundesrepublik gleichzusetzen. Lukaschenko regiert diktatorisch, politische Gegner von ihm müssen um ihr Leben fürchten und um ihre Freiheit. Das ist mit nichts zu rechtfertigen und es wäre absurd, das mit der Situation in Deutschland auf eine Ebene zu stellen.

Mehr Freiheit in Weißrussland?

Fakt ist aber auch: In ihrem Alltag haben die Menschen in der Diktatur in Weißrussland, so weit sie sich nicht gegen das Regime aus dem Fenster lehnen (und das tut nur eine Minderheit) aktuell deutlich mehr Freiheiten als die Menschen in der Demokratie in Deutschland. Sie können in Restaurants gehen, in Sportclubs, ins Schwimmbad, sie können zum Friseur gehen und zur Maniküre, sie können sich mit Freunden und Verwandten treffen, nach Belieben. Dass es deswegen zu einem massenhaften Anstieg von Krankheitsfällen kam, ist zumindest der Bundesregierung nicht bekannt – das sagte mir auf jeden Fall Ihr Sprecher Steffen Seibert auf der Bundespressekonferenz. Er meinte, die Zahlen müsse man in Weißrussland erfragen.

Frau Dr. Merkel, woher nehmen Sie das Recht, dass Sie entscheiden, welches Freiheitsstreben bei den Bürgern gut ist und welches böse? In Diktaturen fehlen den Menschen politische Freiheiten und meist auch Rechtssicherheit. Für viele Menschen sind aber die oben aufgeführten persönlichen Freiheiten besonders wichtig. Das kann man mit gutem Recht verurteilen – aber es ist das Recht jedes Einzelnen, zu entscheiden, welche Freiheiten ihm wichtig sind. Nicht das der Regierung.

Umso befremdlicher ist es, dass Sie in Ihrer Neujahrsansprache Kritiker Ihrer Corona-Politik durch die Blume, aber so, dass es jeder versteht, als Leugner des Corona-Virus hingestellt und damit diffamiert haben. Ich kenne kaum jemand, der das Virus leugnet. Auch nur wenige, die es für ungefährlich halten. Aber ich kenne sehr viele Menschen, die in Frage stellen, dass Ihre Politik im Umgang mit dem Virus sinnvoll ist. Das darf, das muss möglich sein in einer Demokratie. Dass Sie diese Menschen als  „Unverbesserliche“ und „grausam und zynisch“ diffamieren, ist in meinen Augen genau das: grausam und zynisch. Menschen, die Ihre Politik kritisieren, werden heute ausgegrenzt, müssen um ihr soziales Ansehen, ihren Job fürchten. Das haben Sie zu verantworten.

Brandbeschleuniger statt Löschmittel

Was immer Ihre politischen Überzeugungen und Ziele sind  – ich muss offen gestehen, ich habe nicht die geringste Vorstellung davon und finde, dass Sie diese auch nicht wirklich darlegen, wie es Ihre Pflicht wäre: Ich halte es für völlig unverantwortlich, dass Sie in diesen Zeiten, in denen unser Land geteilt ist wie nie, mit Diffamierung von Kritikern diese Spaltung noch befeuern. Statt zu versuchen, den Brand, der unsere Gesellschaft erfasst hat, zu löschen, setzen Sie Brandbeschleuniger ein.

Was immer Ihre Überzeugungen und Ziele sind – wenn es Ihnen um unser Land und die Menschen in diesem geht, müssen Sie aufhören zu spalten und stattdessen versöhnen.

Was ist „unverbesserlich“,  „grausam und zynisch“ daran, die Regierung zu kritisieren? Es ist die normalste Sache der Welt in einer Demokratie. Mehr noch: Es ist das, was eine Demokratie ausmacht und von autoritären Regimen unterscheidet. Nur dort werden Kritiker so pauschal diffamiert.

Ihr Gesundheitsministerium konnte auf Nachfrage keine validen Zahlen nennen, auf deren Grundlage etwa die Schließung der Restaurants erfolgte. Ist es nicht legitim, dass Menschen dies kritisieren?

Tun Sie etwas gegen das Diffamieren!

Ich appelliere an Sie: Stellen Sie sich vor die Kameras und erklären Sie, dass niemand für Kritik an der Regierungspolitik diffamiert werden darf.

Selbst in den Regierungsparteien gibt es kritische Stimmen, die davon ausgehen, dass Sie sich in der Corona-Politik verrannt haben. Weil Sie zu sehr auf einen harten Kurs setzen, ist ein Umkehren ohne politischen Gesichtsverlust schwierig. Aber ich bin überzeugt: Längerfristig wäre ein Festhalten an einer falschen Politik verheerend.

Ich appelliere an Sie: Lassen Sie sich nicht von Dogmen leiten und der Angst um das eigene Ansehen. Wenn Sie wirklich das Beste für Land und Leute wollen, brechen Sie aus Ihrem engen Berater-Kreis aus und suchen Sie endlich den Dialog mit Kritikern wie Prof. Dr. Bhakdi, Dr. Wodarg, Prof. Hockertz und Prof. Homburg. Hören Sie sich deren Argumente wenigstens an, statt sie diffamieren zu lassen. Kehren sie zurück zum Dialog! Machen Sie sich endlich ein Bild über die „Kollateralschäden“ der Corona–Politik, um abwägen zu können. Laut Ihren Sprechern gibt es dazu bislang keine eingehenden Untersuchungen.

Ich bin nicht naiv. Meine Hoffnung, dass Sie meinem Rat folgen, ist gleich Null. Aber dennoch halte ich es für nötig, diesen Brief an Sie zu schreiben.

Zusammenbruch droht

Wenn unsere Gesellschaft kollabiert, wenn uns das jahrelange Spalten und die Fehler der Corona-Politik (in Tateinheit mit der Euro-Druckerei) um die Ohren fliegen werden, soll niemand sagen können, es sei nicht absehbar gewesen und nicht zu vermeiden. Und auch Ausreden wie „Ich wollte doch nur das Beste“ zählen dann nicht.

Arnulf Baring schrieb in den 1990er Jahren ein Buch mit dem Titel: „Scheitert Deutschland?“

Die Frage ist so aktuell wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr.

Ich wünsche Ihnen ein gutes neues Jahr!

Mit traurigen Grüßen

Boris Reitschuster

PS: Sie haben in mehreren Interviews auf die Frage, ob Sie auch nach dem Herbst 2021 weiter Bundeskanzlerin bleiben könnten, immer rhetorische Schlupflöcher offen gelassen (siehe hier und hier).

Meine große Bitte an Sie: Erliegen Sie nicht der Versuchung, weiter an der Macht zu bleiben.

Die Väter der US-Verfassung hatten gute Gründe, die Amtszeiten von Präsidenten auf acht Jahre zu beschränken.

Macht macht einsam.

Macht macht blind.

Die Gefahr der Abkapselung von der Realität ist groß. Ich persönlich würde mir nicht zutrauen, dem zu widerstehen. Sie mögen das anders sehen. Aber glauben Sie mir: Von außen betrachtet ist die Wahrnehmung eine andere. Nicht nur bei mir.

Ganz egal für wen – 16 Jahre an der Macht sind mehr als genug.


PS: Leser schrieben mir als Einwand, ich könne doch nicht behaupten, dass Deutschland eine Diktatur sei. Natürlich kann ich das nicht behaupten, und ich tue es auch mitnichten. Ich konstatiere nur, dass wir heute Einschränkungen der persönlichen Freiheit erleben, wie sie zumindest in modernen Diktaturen bislang kaum zu finden waren. Das kann man beurteilen wie man will, aber es bleibt ein Fakt. Und Fakten sollte man nicht verschweigen.

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Bild: Alexandros Michailidis/Shutterstock
Text: br

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