Ganz offen gestanden konnte ich Armin Laschet nie so richtig ernst nehmen. Er war für mich immer schon mehr Faschings-Prinz bzw. Merkel-Marionette denn ein ernst zu nehmender Ministerpräsident. Dieser Eindruck verstärkte sich noch, als der Nordrhein-Westfälische Landesvater bundesweit zum Gespött wurde, weil er eine Mundschutzmaske falsch anzog, und zwar so, dass die Nase frei blieb (anzusehen hier). Nie werde ich den bösen Witz im Internet vergessen, dass es gut sei, dass wir nicht wissen, wie Laschet andere, intimere „Schutzkleidung“ überzieht.
Und jetzt das! Ausgerechnet Laschet, der schon wie ein politischer Corona-Kollateralschaden wirkte und in allen Umfragen als Möchtegern-Kanzlerkandidat dramatisch gegenüber seinem bayerischen Widerpart Markus Söder von der CSU zurückgefallen ist, traut sich etwas, was man kaum noch einem in der CDU zugetraut hat in Zeiten, in denen sich selbst Friedrich Merz vor Lob für „Mutti“ überschlägt: Er wagt einen Aufstand. Zumindest einen Mini-Aufstand. Das Motiv mag Verzweiflung gewesen sein, weil ihm die Felle davon schwammen, ein letzter Profilierungsversuch, wie bei einem Roulettespieler, der fast alles verloren hat und die letzten Cents auf ein Feld setzt. Doch das Motiv ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass er die große Corona-Einheitsfront zumindest ein klein wenig ins Wanken bringt.
Nein, eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, und ein einmaliger Vorstoß aus Laschet noch keinen Politiker von Format. Aber in Zeiten wie diesen, wo sowohl ein Virus als auch die weitgehende Gleichtaktung des politischen Lebens Grund genug wäre, in Depression zu verfallen, sind auch kleine Hoffnungsschimmer bedeutsam – und man sollte sie nicht ignorieren.
Und so lässt es aufhorchen, was in dem neuen Laschet-Papier zu Corona steht. Etwa dieser Satz: „Jede Entscheidung hat Folgen und zu jeder Entscheidung gibt es immer auch Alternativen.“ Das ist fast schon ein verbaler Mini-Putsch gegen die Kanzlerin, die ja das Dogma der „Alternativlosigkeit“, das man sonst nur aus autoritären Staaten kennt, fast schon zum Leitmotiv ihrer Politik gemacht hat – und auch in der Corona-Krise ganz klar deutlich machte, dass sie die Bürger eher wie Kinder behandelt denn als das Souverän, also ihren Arbeitgeber.
Umso erstaunlicher ist, was sich Laschet für Spitzen gegen die Kanzlerin erlaubt – als deren Ersatz-Ziehsohn er nach dem Ausfall der Dame mit dem schwer auszusprechenden Namen aus dem Saarland gehandelt wurde. Etwa: „Der Prozess der Normalisierung ist angewiesen auf eine konstruktive Begleitung durch die Medien. Die Diskussion muss öffentlich, transparent und ehrlich geführt werden. Es darf keine vermeintlichen Denkverbote geben, sondern Lösungen werden im gemeinsamen Diskurs basierend auf Fakten gefunden.“
Ich bin weit von Euphorie entfernt, und mir fehlt auch der Glaube, aber für solche Aussagen verdient Laschet Respekt. Auch, wenn das Kalkül dahinter allzu offensichtlich ist – entscheidend ist das Resultat. Er stellt sich klar gegen die Einheitsfront von Merkel, Steinmeier, Söder, Spahn und ihren willigen Lautsprechern in den Medien und fordert das, was in anderen Ländern Selbstverständlichkeit ist, womit sich in Deutschland aber so viele schwer tun: Einen offenen Disput, Widerspruch, Diskussion, statt dem bleiernen Gehorsam und der Obrigkeitsorientierung, über die sich gerade erst die Neue Zürcher Zeitung bzw. eine Gastautorin dort völlig zurecht echauffierte: „Die Politik ist nun endgültig durchpädagogisiert. Gerade die Deutschen gefallen sich in 150-prozentigem Corona-Gehorsam.“
Laschets Papier ist auch deshalb mutig. Ich bin kein Virologe und kann schwer beurteilen, ob die Thesen darin richtig sind. Aber ich bin mir völlig sicher: Sie verdienen eine offene, ernste Diskussion. Und die ist allemal besser, als wenn „Par Ordre Du Mutti“ – entschuldigen Sie den Schreibfehler, es sollte natürlich statt dem doppelten „t“ im letzten Wort ein „ft“ stehen, also Mufti“ – aus Berlin entschieden wird – alternativlos.
Während Steinmeier in seiner autoritären, wie an Kinder gerichteten Osterbotschaft die Bürger zum bedingungslosen und diskussionsfreien Gehorsam aufforderte – nur sehr pädagogisch formuliert -, während Merkel gar die Wahrheit für sich in Anspruch nahm in ihrem letzten Auftritt, widersetzt sich Laschet ihrem Anspruch, aus Berlin zu entscheiden, und betont die Kompetenz der Länder und Gebietskörperschaften. Die 15 von Laschet zusammengerufenen Experten setzen ganz andere Akzente als die Kanzlerin und etwa Söder. Die warnen vor einer zu frühen Lockerung der Maßnahmen. Das Laschet-Papier warnt vor den Folgen einer zu späten Lockerung.
Interessant auch, dass Laschets Experten der von Steinmeier und zahlreichen Umfragen verbreiteten These, die Mehrheit der Deutschen sei für eine Beibehaltung der Maßnahmen, widersprochen wird. „Es steht zu befürchten, dass der ersten Phase von gesellschaftlicher Solidarität jetzt eine Phase der Polarisierung folgt, in der Zweifel, Sorgen und Nöte der Menschen stärker werden und damit auch die Bereitschaft abnimmt, die Maßnahmen mitzutragen. Damit steigt die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft verbunden mit erheblichen Konflikten (jung-alt, arm-reich, bildungsnah-bildungsfern)“, heißt es in dem Papier.
Ein schrittweiser Ausstieg aus den Maßnahmen sei demnach nötig, weil die sozialen und gesellschaftlichen Schäden der gegenwärtigen Einschränkungen „extrem groß“ seien. So würden alte Menschen vernachlässigt, Kinder bekämen keine Schulspeisung, wichtige medizinische Behandlungen würden sich nach hinten verschieben. Insgesamt seien die wirtschaftlichen Kosten „enorm“. Ökonomie und Gesundheit dürften zwar nicht gegeneinander „ausgespielt“ werden, aber es gelte: „Was medizinisch notwendig ist, kann hohe ökonomische Schäden verursachen. Diese wiederum können ihrerseits wieder soziale, psychische, aber auch medizinische Folgen haben.“
Wie genau und wie schnell die Öffnung erfolgen soll, dafür müssten dem Papier zufolge vier Kriterien entscheidend sein, wie die FAZ schreibt: „Zunächst müsse bestimmt werden, wo die Gefahr einer Ansteckung besonders hoch sei und wo weniger. Zweitens gelte die Frage: ,Für wen wäre eine Ansteckung besonders gefährlich?´ – Diese Gruppen müssten weiter besonders geschützt werden. Drittens komme es darauf an, was ,für Wirtschaft und Gesellschaft besonders wichtig´ sei. Zuletzt schließlich müsse bedacht werden, wie gut sich im jeweiligen Bereich Schutzmaßnahmen umsetzen ließen.“
Kritiker sagen, all das seien „Experimente“ und damit „Menschenversuche“. Offen gestanden hatte ich zunächst auch solche Bedenken. Aber andererseits: Auch der faktische Hausarrest und die Aussetzung der wesentlichen Grundrechte für 83 Millionen Menschen sind ein „Menschenversuch“. Und sie können wirklich nur das aller-, allerletzte Mittel sein. Und genau deshalb ist es so wichtig, dass sie massiv hinterfragt werden. Das nach Alternativen gesucht wird. Dass sich die Verantwortlichen rechtfertigen müssen. Dass die Maßnahmen keinen Tag länger gelten, als unbedingt erforderlich. Und so wenig ich mich kompetent genug fühle, um die Vorschläge von Laschets Plan im einzelnen zu beurteilen – so dankbar bin ich ihm, dass er gegen den Strom schwimmt und ein Zeichen setzt gegen die „Alternativlosigkeit“. Die ist immer verheerend, und in einer Zeit wie der heutigen besonders.