Ein Gastbeitrag von Josef Kraus
Am 28. Juni 2020 jährt sich zum zehnten Mal der in seinen Umständen bis heute nicht restlos aufgeklärte Tod der Berliner Jugendrichterin Kirsten Heisig (1962 – 2010). Und fast auf den Tag genau vor zehn Jahren, am 23. Juli 2010, ist posthum ihr Bestseller herausgekommen, der mit Blick auf „Stuttgart“ und Co. einen hochaktuellen Titel trägt: „Das Ende der Geduld – Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter“.
Kirsten Heisig geht in diesem 208 Seiten starken und bei Herder erschienenen Buch außer auf Zahlen und Fakten vor allem auf ihre Erfahrungen als Jugendrichterin mit jugendlichen Intensivtätern („Klatschen gehen“), libanesischen Großfamilien, Jugendlichen aus „besserem Haus“ und Schulschwänzern ein. Zudem vergleicht sie die Situation im Bezirk Berlin-Tiergarten, für den sie am dortigen Amtsgericht zuständig war, mit der Lage in Oslo, Glasgow, London und Rotterdam. Schließlich schildert sie ihre Erfahrungen mit dem von ihr initiierten und mittlerweile in anderen Städten ebenfalls praktizierten „Neuköllner Modell“.
Der Berliner Bezirk Neukölln mit seinen über 300.000 Einwohnern war damals schon ein sozialer Brennpunkt. Die Kriminalitätsrate lag um 40 Prozent über dem Durchschnitt Berlins. Im Rahmen dieses Neuköllner Modells werden Strafverfahren bei kleineren Delikten vereinfacht und beschleunigt durchgeführt. Kirsten Heisig orientierte sich dabei an der pädagogischen und psychologischen Erfahrung, dass eine Strafe innerhalb von drei bis fünf Wochen folgen soll, weil die Täter sonst den Zusammenhang zwischen Tat und Strafe (z.B. Arrest bis zu vier Wochen) kaum noch nachvollziehen können. Zudem etablierte Kirsten Heisig Täter-Opfer-Gespräche, und sie ordnete gegebenenfalls gemeinnützige Arbeit an. Der Erfolg dieses Modells spricht für sich, denn auch an anderen Amtsgerichten bestätigte sich, dass damit die Schwelle zum Übergang in gravierendere Straftaten erhöht wird. Vereinfacht ausgedrückt: Jugendliche Straftäter, die gleich beim ersten Delikt empfindlich „eine auf die Finger“ bekommen, werden seltener zu „Schwellentätern“, die über kurz oder lang gravierendere Delikte begehen.
Wohlgemerkt: Dieses Buch ist im Juli 2010 erschienen. Um wieviel wichtiger wäre das Motto „Ende der Geduld“ heute – zehn Jahre später. Nicht zuletzt durch die Grenzöffnung ab September 2015 kamen Zigtausende an „Jugendlichen“ aus gewaltaffinen Kulturkreisen nach Deutschland, die sich als Jugendliche ausgeben konnten, weil deren medizinische Altersbestimmung angeblich gegen Datenschutz verstößt. Heute aber sind auch die Jugendgerichte nicht zuletzt deshalb maßlos überfordert, so dass der Umgang des Rechtsstaates von den Betreffenden als Ausdruck einer Kapitulation des Rechtsstaates und als pädagogisches „Laissez-faire“ interpretiert wird.
Kirsten Heisigs posthum erschienenes Buch ist in der heutigen Wahrnehmung untrennbar verbunden mit ihrem Tod vom 28. Juni 2010. An diesem Tag – so die staatsanwaltschaftlichen und gerichtsmedizinischen Aussagen – erhängte sich die Mutter zweier Töchter im Tegeler Forst an einem Baum. Nach einer Vermisstenanzeige vom 29. Juni wurde ihre Leiche am 3. Juli gefunden. Weil Justizsenatorin Gisela von der Aue (SPD) und Staatsanwaltschaft eine restriktive und fragwürdige Informationspolitik betrieben, rankten sich um Heisigs Tod schnell manche Theorien – auch die Theorie, es sei kein Suizid, sondern Mord gewesen. Erst der Journalst Gerhard Wisnewski brachte mehr Licht ins Dunkel, indem er im November 2010 beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg die Aufhebung der strikten Nachrichtensperre der Staatsanwaltschaft erstritt. Die Staatsanwaltschaft veröffentlichte in der Folge einen vierseitigen Bericht, der den Suizid bestätigte und Details zur unmittelbaren Vorgeschichte sowie zur Auffindesituation darlegte.
Fragen blieben dennoch: Warum diese hinhaltende Öffentlichkeitsarbeit der Behörden? Warum gab es keinen Abschiedsbrief? Warum gab es keine Hinweise zuvor? Was ist mit Kirsten Heisigs tot aufgefundenem Hund? Wie kann es sein, dass sie noch wenige Stunden vor ihrem Tod an den Druckfahnen ihres Buches arbeitete? Wie passt der Suizid zusammen mit ihrem Plan, im Juli 2010 Urlaub mit ihren Töchtern zu machen? Wie passt es zusammen, dass die Leiche mal in 5 Metern, mal in 2,30 Metern Höhe gefunden worden sei? Manches bleibt mysteriös.
Gewiss hatte Frau Heisig nicht nur Freunde: in den Familien der verurteilten Jugendlichen, in der Kollegenschaft, in der Politik. Heisig sollte im September 2011 angeblich als Spitzenkandidatin für die in Gründung befindliche Partei DIE FREIHEIT ins Abgeordnetenhaus Berlin einziehen. SPD und Grüne attackierten Heisig wegen ihrer „plumpen Forderungen“. Viele neideten ihr die große mediale Aufmerksamkeit, die sie mit dem Neuköllner Modell ab 2006 erreicht hatte. Von manchen wurde sie – auch posthum noch – angegiftet: mit dem medial inszenierten Feindbild Thilo Sarrazin wurde sie verglichen, der im August 2010 seinen Beststeller „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht hatte. Ja, Kirsten Heisig nahm kein Blatt vor den Mund. Offen kritisierte sie auch, wenn Migrantenjugendliche ihre deutschen Altersgenossen mit ‚Scheißdeutsche‘, ‚Schweinefleischfresser‘ oder ‚Scheißchristen‘ beschimpften.
Was die Motive des (sehr wahrscheinlichen) Suizids waren, bleibt wohl auf Dauer ungeklärt. Belassen wir es bei den Nachrufen von namhaften Leuten, die Kirsten Heisig sehr gut kannten. Am 10. Juli 2010 war in der Frankfurter Allgemeine Zeitung, in einer Traueranzeige für Kirsten Heisig zu lesen: „In unserem Gesprächskreis war sie uns eine leidenschaftliche und kluge Partnerin, deren Mut und Engagement wir bewundert haben.“ Unterzeichnet war der Nachruf unter anderem von Monika Maron, Necla Kelek, Peter Merseburger, Regina Mönch, Jens Reich, Michael Wolffsohn. Heinz Buschkowsky, markanter damaliger SPD-Bürgermeister von Neukölln schrieb: „Sie war keine Richterin Gnadenlos. Das ist Unfug. Sie war auch nicht Berlins härteste Richterin. Sie war aber eine Vertreterin der Linie, dass die Gesellschaft, dass der Staat sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben darf.“ Buschkowsky schloss seinen Beitrag mit dem Satz: „Irgendwann sollte man dieser außergewöhnlichen Person ein kleines Denkmal setzen. Und sei es nur das Namensschild für einen Platz oder eine Straße.“ (Den nach ihr benannten Platz gibt es mittlerweile in Neukölln.)
ERGÄNZUNG: Nach Veröffentlichung dieses Nachrufes erreichte den Autor ebenfalls zur Veröffentlichung folgendes Schreiben des früheren ZDF-Moderators Peter Hahne. Dieser hatte das letzte, dann nicht ausgestrahlte TV-Interview mit Kirsten Heisig geführt, er schreibt: „Mit dieser großartigen Frau wollte ich meine neue Gesprächssendung eröffnen. Sie fasste ihre Philosophie zusammen mit zwei Worten, die wir bis heute nicht vergessen haben: ‚Knicks Knacks müssten nach der Tat Verhandlung, Urteil und Strafe kommen. Vor allem die Araber müssten sofort wissen, wer Herr im Ring ist: ich. Nicht beeindrucken lassen durch die Luxus-Anwälte der Clans!“ Jugendliche, so Kirsten Heisig laut Hahne weiter, bräuchten Autorität, wären sogar dankbar dafür. Ängstliche Weicheier in der Justiz würden sofort durchschaut, verächtlich gemacht, aber dankbar wegen milder Strafen akzeptiert. Zwei Tage später kam die besonders auch für Peter Hahne erschütternde Todesnachricht. Hahne sagt heute: „Aus meiner Lebenserfahrung: Es war kein Selbstmord, das ganze Interview war zukunftsgerichtet.“ Er zitiert Kirsten Heisig aus dem damaligen Interview: „Ich komme gerne jederzeit wieder zu Ihnen“ waren ihre letzten Worte. Und Hahne heute: „Stuttgart“ hätte es mit Kirsten Heisig nie gegeben.
Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)
Bild: privat/OTFW, Berlin/Wikicommons/GNU Free Documentation License