Tausende Menschen sind am Sonntag in Berlin auf die Straße gegangen. Unter dem Motto „Es reicht. Wir haben Platz“ forderten sie die Aufnahme von mehr Flüchtlingen aus Moria. Das Lager auf der griechischen Insel Lesbos wurde durch Brandstiftung zerstört. Nach dem Willen der Bundesregierung soll Deutschland 1.500 Flüchtlinge von dort aufnehmen. Den Menschen, die jetzt protestierten, ist das zu wenig. Organisiert wurde die Demonstration durch ein Bündnis aus Pro Asyl, der Seebrücke Berlin und weiteren Gruppen. Auch in anderen Städten kam es in den vergangenen Tagen und Wochen zu ähnlichen Demonstrationen für die Aufnahme von mehr Migranten.
Anders als etwa beim „Marsch für das Leben“ von Abtreibungsgegnern am Samstag in Berlin mit ebenfalls mehreren Tausend Teilnehmern war die Berichterstattung in den großen Medien größtenteils sehr wohlwollend. Viele schilderten auch in dramatischen Tönen die schwierige Lage vor Ort auf Lesbos (was bei Abtreibungsgegnern nun die Frage auslösen könnte, warum bei Berichten über ihre Demonstration nicht die Folgen von Abtreibungen geschildert, sondern sie stattdessen als Antisemiten dargestellt wurden). Insbesondere wurde auf das Elend der Kinder vor Ort hingewiesen, wie etwa im gebührenfinanzierten RBB. Dass es aber vorwiegend Erwachsene und darunter insbesondere junge Männer sind, die auf den Inseln auf die Weiterreise in die EU warten, wird dabei eher nicht in den Vordergrund gestellt. Ebenso, wie vor Ort auf Lesbos gezielt für herzerweichende Szenen gesorgt wird für unsere Medien (siehe den Exklusiv-Bericht „Wie auf Lesbos falsche Bilder erzeugt werden„).
Interessant ist auch, dass in den Medien unisono von „Tausenden“ Teilnehmern die Rede ist. Und was die Berliner Polizei machte. Die gibt bei politisch nicht genehmen Demonstrationen die Teilnehmerzahl immer sehr genau und gering an. Beim „Marsch für das Leben“ sollen nur „einige Hundert“ dagewesen sein – absurd wenig. Bei den Migrations-Befürwortern sprach die Polizei nur nebulös von einer „mittleren vierstelligen Zahl“ von Teilnehmern (Focus Online vertippte sich und schrieb von einer „mittleeren“ Zahl, was es vielleicht besser trifft.)
Tatsächlich ist die Aussage „Wir haben Platz“ der Demonstranten sehr relativ. Merkel, Altmaier und Roth mögen Platz haben. Für den Durchschnittsbürger in den Ballungsgebieten herrscht dagegen schon heute akuter, dramatischer Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Und die Erfahrung zeigt, dass es Migranten tendenziell eher in die Ballungsräume zieht. Menschen, die hier schon lange auf der Suche nach Wohnungen sind, muss die Forderungen der Protestierenden wie Hohn vorkommen. Zumal gerade die Organisatoren solcher Veranstaltungen oft gut abgesichert in Positionen tätig sind, die maßgeblich über Steuergelder finanziert sind, was ihnen auf dem Wohnungsmarkt bessere Chancen eröffnet als vielen anderen.
Zahlreiche Probleme in Folge der so genannten „Flüchtlingskrise“ 2015 sind nicht zu leugnen: Die Integration verläuft sehr zäh, ein Großteil der damals Eingereisten lebt auch heute noch von staatlichen Zuwendungen, also von den Steuerzahlern. Darüber wird allerdings wenig berichtet.
Wenn „Tausende“ Menschen auf der Straße sind, um zu bekunden, sie hätten Platz, zwingt sich eine Frage geradezu auf: Warum gehen sie dann nicht mit gutem Beispiel voran und bieten mindestens einem Migranten bei sich zu Hause Unterkunft an? Damit ließe sich das Kontingent von 1500 der Bundesregierung schon verdoppeln. Nächstenliebe auf Kosten der Allgemeinheit zu fordern, ist wohlfeil und kostet nichts. Es beruhigt das eigene Gewissen und verschafft das Gefühl moralischer Überlegenheit zum Nulltarif.
Wenn es konkret wird, sieht es oft ganz anders aus. Der Bürgermeister der italienischen Gemeinde Inzago, Andrea Fumagalli, hatte 2017 die Teilnehmer einer „Refugees welcome“-Demonstration feststellen lassen. Und er lud sie ein, im Rathaus der 11.000-Einwohner-Gemeinde bei Mailand ein Dokument zu unterschrieben, das sie verpflichtet, die von ihnen eingeladenen Flüchtlinge in ihrem eigenen Haus aufzunehmen. „Sie haben Ihre Meinung geäußert, das ist Ihr gutes Recht,“ sagte Fumagalli, „und nun erwarte ich auch, dass Sie zu Ihrer Haltung stehen.“ Von einem Ansturm von Hilfswilligen auf das Rathaus von Inzago ist nichts überliefert.
Wie wäre es damit, das Know-how des Italieners in Deutschland zu übernehmen? Auch hierzulande fällt auf, dass gerade in jenen Stadtteilen, wo die größten Anhänger von offener Gesellschaft und offenen Grenzen leben, wie etwa in Berlin-Mitte oder Prenzlauer Berg, der Migrantenanteil oft am geringsten ist – und der Widerstand gegen die Unterbringung von Migranten massiv. Viele der „Flüchtlingsbürgen“, die mit einer Bürgschaft die Aufnahme von Migranten erreichen wollten, klagten später dagegen, wirklich für ihre Verpflichtung aufkommen zu müssen.
Wie wäre es, wenn diejenigen, die am lautesten nach der Aufnahme von mehr Migranten schreien, etwa Katrin Göring-Eckardt, Erik Marquardt und Claudia Roth von den Grünen oder Saskia Esken und Walter Borjans von der SPD, mit gutem Beispiel vorangingen und ein paar junge Männer von Lesbos bei sich zu Hause aufnähmen? Wenn sie die Wohnung dafür auf Vordermann bringen würden, statt in der Business-Class nach Lesbos zu fliegen, um dort medienwirksam die eigene Moral zur Schau zu stellen? Oder zumindest mal für ein Jahr nach Neukölln oder in andere Viertel umziehen würden, in denen schon heute massive Probleme in Folge von Migration bestehen? Vielleicht würden sie dann manches mit neuen Augen sehen.
PS: Ich habe gleich folgende Presseanfrage an den Bundestag geschickt und bin gespannt auf die Antwort: „Bitte teilen Sie mir mit, wie viele und ggf. welche Bundestagsabgeordnete A) im September 2020 und B) im gesamten Jahr 2020 dienstlich nach Griechenland gereist sind und mit welcher Beförderungsklasse sie dabei reisten (Business/Economy-Class)?
Bild: Maren Winter/360b/Shutterstock
Text: br
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