Immer, wenn man meint, es könne einen eigentlich gar nichts mehr überraschen und es könne eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen, wird man auf ein Neues überrascht in diesen Tagen. Und dabei war schon der Auftakt schwerer Tobak: Zwei absurde Beispiele für Regierungs-Kuschelei statt Journalismus, die heute bei Jasper von Altenbockum zu lesen waren, der für die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt und schon seit langem mehr an einen Regierungssprecher erinnert als an einen Journalisten.
Meldung 1, auf der FAZ-Seite auf twitter heute: „Hätten die Landesregierungen früher auf Reformvorschläge gehört, hätte die Agitation gegen den Rundfunk weniger Nahrung. Und das Fernsehprogramm wäre besser, kommentiert Jasper von Altenbockum„. Phänomenal, wie hier „umgeframt“ wird. Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird zur Agitation. Und mit schuld an dieser sind die Landesregierungen. Dass die Kritik auch andere Gründe haben könnte? Reale Gründe gar? Solche Gedanken sind für den Kollegen offenbar Ketzerei. Woher kommt so viel Willfährigkeit? Hofft da jemand darauf, dass auch bald Zeitungen mit Gebühren bezahlt werden müssen wie heute schon die öffentlich-rechtlichen? Im Gespräch ist das ja.
Meldung 2, direkt auf der twitter-Seite von Altenbockum: „Dass Medien wie @TichysEinblick ein solches ´Dokument´ ausschlachten würden, ist klar. Tatsächlich entbehrt es jeder Grundlage.“ Gemeint ist die Corona-Analyse aus dem Bundesinnenministerium, die ein verheerendes Urteil über die Maßnahmen der Regierung fällt (Details siehe hier). Es ist traurig, wenn Journalisten die Arbeit von Regierungssprechern machen. Noch krasser ist es, wenn sie die dabei noch überholen in Sachen Einsatz und Vehemenz. Und tragikomisch, wenn sie dabei sticheln gegen Kollegen, die noch Journalismus machen und die Regierenden kritisieren. Wenn Jasper von Altenbockum bzw. die Frankfurter Allgemeine Erkenntnisse und Belege haben, dass die Analyse „jeder Grundlage“ entbehrt, warum machen sie diese dann nicht öffentlich? Das müsste doch dann der erste Schritt sein! Wenn sie diese Erkenntnisse nicht haben – warum nehmen sie dann die Kritik nicht wenigstens ernst?
Treppenwitz am Rande: Selbst Ex-FAZ-Mann Hendrik Wieduwilt, der erst vor kurzem die Fronten gewechselt hat und bei einer Kommunikations-Agentur anheuerte, ging der vorauseilende Gehorsam des Ex-Kollegen zu weit. Und er leistete sich eine feine öffentliche Spitze (siehe Bild). Ist man erst einmal aus einer Redaktion ausgeschieden, sieht man offenbar manches kritischer.
Nach zwei solchen journalistischen Mini-GAUs war ich heute wieder einmal fast am Verzweifeln über die eigene Zunft, als ich plötzlich die Seite der Bild öffnete und meinen Augen nicht traute. Da prangt in großen Buchstaben die Überschrift: „Russland und USA Seuchen-Hotspots der Welt – Mai-Partys mit Grillen und Trinken +++ Hat Präsident Putin Fehler gemacht?“ Und darunter ein Bild von einem Massenauflauf auf Moskaus Straßen, Abertausende dicht an dicht gedrängt, mit der Bildunterschrift: „Russland am ´Tag des Sieges´: Tausende drängen sich bei den Feierlichkeiten zum 75. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs am 9. Mai auf Moskaus Straßen.“
Ich traute meinen Augen nicht. Ich weiß von vielen Freunden, dass in Moskau eine strenge Ausgangssperre herrscht, dass alle Feierlichkeiten zum 9. Mai, für die Menschen zusammen auf die Straße gegangen wären, abgesagt wurden. Diese Absage der traditionellen Siegesfeiern, ja die Begehung des gefühlt größten Feiertags im Land in Quarantäne, war lange ein beherrschende Thema in Russland und in seinen Medien. Jeder, der sich mit Russland befasst, war damit auf die eine oder andere Weise konfrontiert. Und dann so etwas! Laut Bild gab es einen Massenauflauf am Tag des Sieges. Ich schrieb sofort diverse Bekannte an. Lügen die russischen Medien? War alles ein gigantischer Fake? Wird in Wirklichkeit breit gefeiert, und nur die BILD enthüllt den Mega-Schwindel? Die kopfschüttelnde Antwort von allen: Es herrschte gähnende Leere auf den Moskauer Straßen, kaum ein Mensch zu sehen. Ein guter Freund schickte mir als Beleg gleich die Bilder, die er gemacht hat (dank eines Sonderstatus als Offizieller durfte er selbst auf die Straße):
Der Freund war völlig baff über den Bericht in der BILD: „Das ist echt der Hammer. Seit 28.03. ist hier Isolation, alles leer, keiner in Moskau hängt aufeinander. Ab heute Maskenpflicht und Handschuhe…“
Ich machte mich sodann auf die umgekehrte Bilder-Suche. Und siehe da: Das Bild, das die BILD verkauft als aktuell, ist vom vergangenen Jahr. Foxnews stellt dieses Fotos vom 9. Mai 2019 etwa explizit einem Bild von der gleichen, leeren Straße in diesem Jahr gegenüber (Link zum Beitrag).
Schon 2018 hatte die BILD Fehlinformationen im Zusammenhang mit Russland verbreitet. Der angebliche E-Mail-Verkehr zwischen Kevin Kühnert und einem Russen namens „Juri“ war ihr damals eine Titelgeschichte wert: Angeblich sollte der Juso-Chef an einem Angebot aus Russland interessiert gewesen sein, mit Social Bots, also gefälschten Accounts, gegen die Große Koalition Stimmung zu machen. Die Geschichte wirkte für Kenner von Anfang an merkwürdig. Später enthüllte das Satiremagazin „Titanic“, dass es die Zeitung mit der Aktion gefoppt und diese darauf hereingefallen war. Der neue Fehler ist mehr als nur ärgerlich. Ich bin der letzte, der Putin verteidigt. Im Gegenteil: Ich erfahre hier in Deutschland auf Schritt und Tritt, wie das allgemeine Misstrauen gegen die Medien auch meine kritischen Berichte über Russlands Präsidenten für viele zweifelhaft macht. Und dann so etwas! Muss man sich da noch wundern, dass so viele Menschen von „Lügenpresse“ reden? Dass das Vertrauen in unsere Medien so gering ist bei vielen? Dass Putin-Kritiker wie ich von vielen mit Argwohn betrachtet werden?
Mich macht diese Geschichte wütend! Eine steilere Vorlage als die BILD mit diesem Bericht kann man Moskau gar nicht liefern für seine Vorwürfe, die deutschen Medien würden manipulativ über den Kreml berichten. Selbst wenn der grobe Schnitzer auf Unwissen und/oder Unfähigkeit zurückzuführen ist und nicht auf böse Absicht, wovon ich ausgehe: Er disqualifiziert das Blatt und zeigt, dass ihm die Russland-Kompetenz fehlt. Vielleicht haben die Kollegen Russland und Weißrussland verwechselt? In letzteren wurde tatsächlich auf der Straße gefeiert. Wie auch immer: So wird auch die andere Kritik am Kreml aus der gleichen Redaktion entwertet.
Und mit solchen Fakes werden auch Putin-Kritiker wie ich diskreditiert. Denn was bleibt hängen bei den Menschen? Dass die deutschen Medien über Russland lügen. Und so glauben viele, der Kreml-Chef würde genauso verzerrt negativ dargestellt wie Trump oder die AfD. Und wer Russland nicht kennt, hat kaum ein Chance, zu verstehen, dass es in Wirklichkeit eher – nicht immer – umgekehrt ist: Dass viele deutsche Journalisten und Politiker Putin eher mit Samthandschuhen anfassen, weil er erstens stramm antiamerikanisch ist und sie zweitens bei Moskau immer noch an Sozialismus denken, den sie lieben (siehe meinen Bericht darüber hier).
Ich weiß: Einige werden mich jetzt wegen meiner kritischen Einstellung zu Putin attackieren. Aber ich bin der Auffassung, dass man als Journalist die Mächtigen kritisieren muss. Egal wo. Hätte ich in 16 Jahren als Büroleiter des Focus in Moskau Putin nicht kritisiert, hätte ich es viel bequemer gehabt, und mir viel weniger Feinde gemacht, auch im eigenen Hause. Aber ich hätte mich selbst verraten.
Genauso wie ich mich verraten hätte, wenn ich nach der Rückkehr nach Deutschland 2012 und nachdem ich die Zuständigkeit für Russland 2015 abgegeben hatte, nicht unsere Regierung kritisieren würde. Also ganz egal, ob Putin-Verteidiger oder Merkel-Anhänger: Wer einem Journalisten vorwirft, dass er die Regierenden kritisiert, hat eine Vorstellung von Journalismus, die sich nicht mit meiner deckt.
+++ Aktualisierung am 13.5.2020 um 22.34 +++
Nach Erscheinen dieses Beitrags auf reitschuster.de korrigierte die BILD ihren Fehler. Einen Hinweis auf das Irrtum und die Korrektur konnte ich auf der Seite nicht entdecken.
Aktualisierung am 13.5.2020 um 22.34:Nach Erscheinen dieses Beitrags auf reitschuster.de korrigierte die BILD ihren Fehler. Einen Hinweis auf das Irrtum und die Korrektur konnte ich auf der Seite nicht entdecken.
Bild: Screenhot bild.de, Screenshot foxnews.com