Schluss mit Trittbrettfahrern und Coronagewinnlern!

Ein Gastbeitrag von Josef Kraus, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes 1987-2017

„Corona“ hat ein Heer an Trittbrettfahrern und Pandemiegewinnlern auf den Plan gerufen. Allen voran marschiert eine „hohe“ Politik mit neuen, schier Orwell‘schen Visionen totalitärer Versuchung: Die Exekutive regiert ohne das Parlament allein mit Verordnungen, wiewohl jede Einschränkung von Freiheiten einem Gesetzesvorbehalt unterliegt; man schwärmt von neuen Pflichten (Impfpflicht) und neuen Kontrollmöglichkeiten (siehe Immunitätsausweise und Trackings-Apps). Selbsternannte Großideologen schwärmen von neuen Großideologien jenseits von Kapitalismus und Kommunismus. Migrationseuphoriker möchten Millionen Menschen aus Afrika durch offene Grenzen vor Corona in ihren Herkunftsländern schützen. Umweltbewegte begeistern sich an neuen Mobilitätshindernissen (Tempo 30 oder 80 oder 100, Fahrverbote, Abbau der Automobilindustrie, Ausbau des ÖPNV und Vorrang für Fahrradwege). Rotsozialisten wünschen sich die Verstaatlichung großer Unternehmen (z.B. Lufthansa) und weitreichende Vermögensabgaben. Öko-Sozialisten schwadronieren von einer planwirtschaftlichen „Pandemiewirtschaft“. Zeitungsverlage und private Sendeanstalten wollen es den zwangsgebührenfinanzierten Öffentlich-Rechtlichen von ARD/ZDF gleichtun und hoffen auf Staatsgelder, dafür treten sie mit systemkonformer Berichterstattung und Kommentierung bereits in Vorleistung. Die EU spekuliert auf eine neue Schuldenunion. Die EZB meint, der Abschaffung des Bargeldes einen Schritt näher gekommen zu sein. Die IT-Industrie wittert den Verkauf von Millionen von Computern für Schulen und Familien, auf dass endlich ein Telelearning gelingen möge.

Womit wir bei Bildung – oder „Bildung“? – wären. Auch hier gibt es nicht wenige Krisen- und Ideologiegewinnler. Denn bei so viel Post-Corona-Visionen wollen progressive Bildungspolitik und Pädagogik sowie ihre Hard- und Softwarelieferanten nicht abseits stehen. Lassen wir ein paar der Visionäre zu Wort kommen.

Progressive Bildungstheoretiker sehen sich gerade durch die vorübergehende Schließung von Schulen bemüßigt, „digitales“ Lernen zu propagieren. Dass es kein „digitales“ Lernen gibt, weil der Mensch analog lernt, lassen wir mal beiseite. Und auch der Hinweis, dass es weltweit keinen einzigen wissenschaftlichen Beweis für die Überlegenheit oder wenigstens Gleichwertigkeit „digitalen“ Lernens gegenüber einem klassischem Lernen im Schulunterricht gibt, gilt ja regierungsamtlich als „nicht hilfreich“. Schließlich lockt allein der Bund mit 5 Milliarden für den Ausbau „digitalen“ Lernens – sehr zur Freude von Telekom-, Vodafon, Bitkom- Bertelsmann-Stiftung und Co. Dass die Schulen sich so recht und schlecht mit Online-Unterrichtung und Online-Hausaufgaben über die Schulschließungen hinweg retteten: schön und gut! Es war ein Notbehelf, nicht mehr und nicht weniger. Serienreif ist dieser Notbehelf zumindest für Schule nicht, und er wird es auch nie sein. Für die Bereiche Hochschule und Berufsbildung mag es etwas anders sein, denn hier ist bei den Teilnehmern bereits eine Basis an Allgemeinbildung und an Eigenständigkeit da.

Es gibt keine Alternative zum herkömmlich schulischen Unterricht – allein schon wegen der in ihm steckenden Chancen interaktiven und sozialen Lernens. Tatsache ist freilich auch, dass die meisten Klassen in den Jahrgangsstufen 1 bis 8 wegen „Corona“ im Schuljahr 2019/2020 einen Unterrichtsausfall im Umfang von bis zu einem Viertel eines Schuljahres beziehungsweise – je nach Jahrgangsstufe in absoluten Zahlen – von rund 250 bis 350 Unterrichtstunden hatten. Das ist eine Menge – zumal in Klassen der Grundschule, wo es um die Vermittlung grundlegender Kulturtechniken geht, oder Klassen kurz vor einem Schulabschluss. Ein „Homeschooling“ konnte dies allenfalls rudimentär kompensieren. Deshalb gibt es keine Alternative zu einem Aufholen dieses Ausfalls im Schuljahr 2020/21: zum Beispiel vorübergehend durch eine angemessene Kürzung von Ferien oder die phasenweise (Wieder-)Einführung eines Samstagsunterrichts. Gemeint ist damit straffer Unterricht – ohne all die zeitaufwendigen Spielereien wie Freiarbeit, Gruppenarbeit oder Materialtheke.

Ein regelrechtes Ideologie-Recycling betreiben schließlich so manche progressiven Pädagogen und „Bildungsforscher“, die als Konsequenz aus „Corona“ einer Kürzung der Lehrstoffe, einer Abschaffung von Noten und einer Abschaffung des Sitzenbleibens das Wort reden. Nein, damit würde die Bildungsnation, so sie denn noch eine ist, noch vehementer an die Wand gefahren. Denn all diese drei Pläne laufen auf eine Absenkung des Anspruchsniveaus hinaus. Lehrpläne sind im übrigen jetzt schon weitgehend zu Leerplänen geworden, die Noten sind bis hin zum Abitur regelrecht inflationär immer besser geworden, und eine Abschaffung des Sitzenbleibens käme einer populistisch gefälligen Abiturvollkaskopolitik gleich.

Also mögen die Allgewaltigen der Bildungspolitik die Finger von solchen Fingerübungen lassen. Es sind dies alles Placebos, deren ideologische Wurzel ein Rasermäheregalitarismus ist. Oder mit anderen Worten: Die Kollateralschäden von „Corona“ sind – ungewollt oder auch politisch inszeniert – ohnehin schon gewaltig genug: vor allem wirtschaftlich und sozial. Bildung sollte nicht auch noch in diesen Strudel gezogen werden.


Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)


Bild: Pixabay

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