Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl
Diskriminierung ist in Deutschland heute in aller Munde. Es heißt, sie sei allgegenwärtig. Ich als in Deutschland lebende Ausländerin habe so eine Diskriminierung nie empfunden – und sehe mit Befremden auf die aktuelle Diskussion in Deutschland zu diesem Thema.
Als ich mit 27 meine Heimatstadt St. Petersburg verlassen habe und nach Deutschland kam, war es für mich ein Neuanfang. In St. Petersburg stand ich mit beiden Beinen im Leben (in den 2000-er Jahren war das Leben noch viel entspannter in Russland) und musste für meinen Neuanfang in Deutschland einiges aufgeben: Einen sicheren Job, meinen Alltag, die Möglichkeit, die Menschen, die ich liebe, so oft zu sehen wie ich will, und letztlich auch ein Stück meiner Kultur. In den letzten 15 Jahren habe ich einen langen Weg der Integration und beruflicher Findung gemacht und kann mit Sicherheit behaupten, dass dieser Weg nicht leicht war. Mein russischer Studien-Abschluss wurde in Deutschland nicht als gleichwertiger anerkannt, so dass ich noch mal studiert habe. Zugelassen zum Studium wurde ich erst nach vielen Deutsch-Kursen und einem teueren Sprachtest. Für mein Studium habe ich ein Studienkredit aufgenommen, und nachdem ich es abgeschlossen habe, konnte ich lange keine Arbeit finden. Heute blicke ich auf diesen Weg zurück und sehe, dass er alles andere als leicht war.
Was hat das alles mit dem Thema zu tun, zu dem ich jetzt diesen Text schreibe, also mit dem Thema Ausländer-Benachteiligung? Nichts! Das hat gar nichts mit dem Thema Benachteiligung zu tun. Ich habe vielleicht etwas viel private Details über mein Leben verraten und mich etwas über meine berufliche Findung und meine Adaption zu der neuen Kultur beschwert, aber diesen Weg habe ich selbst ausgewählt und ich habe mich bis jetzt als Ausländerin oder als Frau oder Ausländerin und als Frau weder benachteiligt noch auf irgendeine Art und Weise verhindert gefühlt, den gewünschten Weg zu gehen.
Ich erinnere mich an eine Kollegin türkischer Abstammung, mit der ich vor einigen Jahren in einer Institution in Berlin zusammen gearbeitet habe. Die Kollegin hat sich häufig über die Menge der Aufgaben beschwert, die sie von den Vorgesetzten bekommen hat. „Das machen sie mit uns nur, weil wir Migranten sind“, hat sie häufig gesagt. Sie wollte sich sogar bei einer Antidiskriminierungsstelle beschweren. Ich verstand die Begründung der Kollegin nicht. Meines Erachtens ging es um ganz normales Arbeitspensum und ich selbst habe niemals von den Vorgesetzten auch nur ein Wort gehört, das auf eine Benachteiligung hindeuten könnte. Ganz im Gegenteil. Wir wurden für einen attraktiven Projektjob eingestellt und erhielten dafür eine faire Vergütung. Aber wie bei vielen geförderten Projekten häufig der Fall ist, hatten wir sehr viel zu tun, und die Vorgesetzten, die meine Kollegin diskriminiert haben sollen, im Übrigen auch. Ich fragte mich dann, ob meine türkische Kollegin ihre Herkunft einfach dafür instrumentalisiert, um sich als vermeintliche Opfer einer Diskriminierung darzustellen. Denn Opfer werden anders behandelt. Die Kollegin ist im Vorschulalter zusammen mit ihren Eltern nach Deutschland gekommen. Sie hat die deutsche Staatsbürgerschaft, hat eine deutsche Schule besucht, einen deutschen Studien-Abschluss, und sie hat einen wissenschaftlichen Karriereweg eingeschlagen. Sie ist in einem demokratischen Land aufwachsen und hat genau so viele Rechte wie ihre Mitbürger. Womöglich wird sie ihre Gründe haben, sich benachteiligt gefühlt zu haben, aber unser damaliger Arbeitgeber wird damit nichts zu tun gehabt haben.
Im letzten Sommer war ich mit einigen Freunden in einem Freibad. Neben uns haben sich junge Männer arabischer Herkunft gemütlich gemacht. Sie haben laut Musik gehört, sehr laut gesprochen und andere Gäste mit ihrem aufdringlichen Benehmen belästigt, ja fast provoziert. Ein Freund sagte mir leise: „Und man kann ja gar nichts machen“. Ich habe mich damals sehr gewundert, warum man da „gar nichts machen“ kann. Warum man Menschen – ganz egal welcher Herkunft – nicht auf ihr unverschämtes und störendes Verhalten ansprechen darf.
Mit Staunen und immer größer werdenden Augen beobachte ich die gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und insbesondere der letzten Monate und komme mir wie im falschen Film vor. Auf der einen Seite trauen sich Deutsche nicht, Ausländer auf ihr schlechtes Verhalten anzusprechen, wenn sie ein solches wahrnehmen. Medien verschweigen sogar häufig die Nationalität mancher Straftäter, die nicht deutsch sind, schreiben jedoch immer, wenn die Täter deutsche Herkunft haben. Machen sie das aus Angst, der Diskriminierung beschuldigt zu werden oder liegen die Gründe dafür viel tiefer? Etwa in der aktuellen politischen Entwicklung?
Auf der anderen Seite wird Deutschland in den (öffentlich-rechtlichen) Medien als das Land präsentiert, in dem Rassismus und Ausländer-Diskriminierung ein ernsthaftes gesellschaftliches Problem darstellen. Dabei hat es ein gut funktionierendes System für die Integration von Einwanderern entwickelt. Es gibt internationale Schulen, geförderte Deutsch- und Integrationskurse, es gibt Sozialleitungen für Arbeitslose und Asylbewerber unabhängig von ihrer Herkunft, es gibt viele Förderprogramme für Berufseinsteiger – Akademiker oder nicht – und es gibt Menschenrechtsorganisationen. Deutschland zieht Einwanderer an, weil es (noch) ein attraktives Land mit guten Integrationsmöglichkeiten und attraktiven Sozialleistungen ist. Nicht zuletzt auch deshalb haben wir ja auch so viele Einwanderer hier. Ob sie diese Möglichkeiten für sich nutzen oder nutzen wollen, ist eine andere Frage.
Ich bin weit davon entfernt, abzustreiten, dass Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder Hautfarbe oder anderen Merkmalen in Deutschland diskriminiert werden. Und mit Sicherheit gibt es Gruppen oder einzelne Menschen, die benachteiligt werden oder sich benachteiligt fühlen. Es gibt aber auch genug Instrumente zur Bekämpfung der Ausländer-Benachteiligung in Deutschland, etwa Antidiskriminierungsstellen, Migrantenorganisationen, Selbsthilfeorganisationen, Förderprogramme etc. Die Berichterstattung der letzten Wochen vermittelt jedoch den Eindruck, als ob Deutschland ein Land wäre, in dem Diskriminierung ein ernsthaftes gesellschaftliches und strukturelles Problem darstellt, ja sogar eine Krise. Hätte ich dann nicht als Ausländerin in den letzten 15 Jahren meines Lebens in Deutschland und 10 Jahren Berufserfahrung wenigstens einmal damit konfrontiert werden müssen – wenn es schon ernsthaftes Problem im Land geben sollte? Auch in meinem Bekannten- und Freundeskreis, bestehend aus Menschen unterschiedlicher Herkunft, kann ich keine Fälle der Diskriminierung bestätigen.
Meine ehemalige türkische Kollegin hat mir damals gesagt: „Du wirst benachteiligt, weil du Ausländerin bist, du verstehst es nicht. Sie behandeln dich anders als Deutsche.“ Da frage ich mich, wenn man sich als Ausländer nicht benachteiligt fühlt, muss man erst aufgeklärt werden, um sich als solcher zu fühlen? Werde ich gerade benachteiligt, und weiß selbst nichts davon? Ich bin in der Sowjetunion und in Mangel aufgewachsen. Meine Großeltern durften nicht studieren, weil sie Juden waren. Der Vater meiner Großmutter ist als vermeintlicher Staatsfeind hingerichtet worden, deshalb verbrachte meine Großmutter ihre Kindheit im Exil. Ich selbst wurde häufig als Kind als Jüdin beschimpft. Deshalb denke ich, ich weiß, was es heißt, diskriminiert zu werden. Wenn nicht aus eigener Erfahrung, dann aus Erfahrung meiner Großeltern und vieler anderen Menschen, die in der Sowjetunion gelebt haben. Man weiß es, wenn man diskriminiert wird.
Die mediale Hysterie der letzten Wochen, kollektives Knien oder verstärkte mediale Aufklärung zu Rassismus und Rassist-Sein oder Umbenennungen von Straßen und U-Bahn-Stationen, Apotheken und Cafés bedeutet für mich nichts, was mit dem vermeintlichen Problem Diskriminierung und dessen Lösung – wenn es schon eines geben sollte – zu tun haben könnte. Vielmehr sehe ich darin Zeichen eines gefährlichen Wertewandels, bei dem bestimmte Themen zunehmend einseitig beleuchtet werden und kritische Stimmen unterdrückt und diffamiert werden. Und dass (öffentich-rechtliche) Medien dabei eine belehrende und aufklärende Rolle einnehmen, erinnert mich eher an die Berichterstattung in der Diktatur, in der ich aufgewachsen bin.
Ekaterina Quehl ist gebürtige Petersburgerin und lebt in Berlin. Ihr Blog „Mein Leben in den Zeiten von Corona“ ist hier zu finden. Dieser Beitrag erscheint auch dort.
Bild: WIX.