Nennen Sie mir ein Land, in dem Journalisten und Politiker sich vertragen, und ich sage Ihnen, da ist keine Demokratie.«
Hugh C. Greene (1910-87), britischer Publizist
Gestern Abend in der 20-Uhr-Tagesschau, der wichtigsten Nachrichtensendung des Landes: Kritik in Sachen Corona-Krisenmanagement gab es nur an Donald Trump. Keinerlei kritischen Worte oder Fragen dagegen waren zu hören, was das Krisenmanagement in Deutschland angeht. Die Botschaft: Die Lage ist ernst, aber sie ist im Griff. Die Kollegen bei der ARD agieren eher wie Regierungssprecher und Psychotherapeuten denn als Journalisten. Ähnlich beim Maybrit Illner im ZDF, die ihr Handwerk noch in der DDR gelernt hat und noch 1986 während des Studiums in die SED eintrat: In ihrer Sendung bekam man den Eindruck, das Virus-Problem sei so gut wie gelöst. Die Tagesschau teilt unter der Überschrift „Es läuft alles wie nach Drehbuch“ mit: „In der Corona-Krise macht die Bundesregierung vieles richtig, sagt Krisenforscher Frank Roselieb. Jedoch müsste die Öffentlichkeit mehr über positive Entwicklungen informiert werden.“
Dabei hätte man in den mit Milliarden an Gebühren gepäppelten Redaktionen nur einmal googeln müssen, um zu sehen, dass es massive Probleme im Krisenmanagement gibt. Ärzte klagen über teilweise unglaubliche Zustände – bei denen ich mich als jemand, der 16 Jahre in Moskau lebte, eher an Russland erinnert fühle, als an das alte Deutschland, aus dem ich 1999 Richtung Osten zog.
So zerlegte etwa der Allgemeinmediziner Stephan Höhne aus Wandlitz bei Berlin die Aussagen von Angela Merkel und Jens Spahn und forderte mehr Kompetenz in hohen Ämtern. „Ich bin erschüttert über das Katastrophenmanagement dieser Bundesregierung, und dass man auf der Bundespressekonferenz erfahren hat, dass alles gut ist und noch viel besser wird“, klagt Höhne (anzusehen hier): „Es ist nicht so, wir haben weiterhin keine Schutzmasken erhalten, wir warten seit mehreren Wochen auf die Lieferung von Desinfektionsmittel. Heute in der Bundespressekonferenz hieß es, das sei alles gelöst.“
Die Hauptstadtjournalisten, bei allen, die nicht stramm auf linksgrüner Linie sind, sonst oft wie Inquisitoren, zeigten sich mehrheitlich sehr handzahm, ja ehrfüchtig mit Spahn und Merkel. So richtig den Finger in die Wunden, wie es Aufgabe der Presse ist, legte kaum einer.
Er vermisse eine Führung in der Krise, kritisiert der Mediziner Höhne: „Es gibt ganz, ganz unterschiedliche Aussagen von unterschiedlichen Gesundheitsämtern, schon über die Landkreise hinweg, Patienten die in einem Landkreis wohnen und im anderen Landkreis arbeiten werden ganz unterschiedlich beraten, wir haben keinerlei Unterstützung in der Patientenkoordination, im Gegenteil, wir erfahren eine Verunsicherung der Patienten über die Gesundheitsämter, die weiterhin größere Testverfahren ablehnen. Wir testen viel, viel zu wenig, um ein Cluster zu eruieren, wie denn die Verbreitung ist.“
Der Chef der Weltgesundheits-Organisation habe gewarnt, dass massive Maßnahmen notwendig seien, warnt der Mediziner: „Es besteht nicht die Zeit für Abwarten, es muss gehandelt werden, und diese Handlungen sehe ich nicht in unserer Politik.“
Auf die Frage, wem er die Schuld an dem Zustand gibt, dass Praxen wie seine nur noch mit Hilfe von Spenden funktionsfähig sind, antwortete Höhne: „Es gab eine Vorbereitungszeit von acht Wochen, und ich weiß nicht, was in dieser Zeit gemacht worden ist, außer zu erklären, dass alles gut ist und alle vorbereitet sind, dass das Land fantastisch aufgestellt ist für die Krise. Man kann davon nichts nachvollziehen, es ist nichts vorbereitet, es gibt keine gemeinschaftliche Kommunikation. Alle schieben den schwarzen Peter aufeinander ab.“
Alle Ämter erklärten sich jeweils für nicht zuständig, so Höhne: Er fordert, dass Spahn entweder Verantwortung übernimmt und handelt oder „Platz macht für jemanden, der das kann“: „Es wird weiterhin nur geredet“.
Frontberichte wie der des Allgemeinmediziner aus Brandenburg stehen im krassen Kontrast zu dem Eindruck, der in den meisten öffentlich-rechtlichen Sendungen und vielen anderen Medien vermittelt wird: Dass alles unter Kontrolle ist und die Regierung gute Arbeitet leistet. Damit dieser untadelige Eindruck auch ja nicht befleckt wird, verzichtet man in den Anstalten offenbar auch gerne einmal auf etwas, was zu den Grundregeln des Journalismus gehört und für gebührenfinanzierte Medien die einzige Existenzberechtigung ist: Ausgewogenheit und die andere Seite zu hören – also die Opposition. Pustekuchen! Dafür wird aus allen Rohren gegen US-Präsident Trump geschossen:
So groß die Kritik an Trump ist, so sehr fehlt der Mut zu kritischen Fragen Zuhause. Etwa der, warum es zu wenig Masken gibt, zu wenig Desinfektionsmittel? Warum an unseren Grenzen keinerlei Kontrollen stattfinden, nicht einmal bei Flügen aus China? Warum an den Flughäfen teilweise Chaos herrscht mit den neuen Einreiskarten? Wie es dazu kam, dass die bereits sehr offensichtliche Gefahr so lange unterschätzt wurde? Wie es um die Abwägung der Prioritäten steht: Menschenleben contra Wirtschaftsinteressen. Es fehlt auch ein wirklich ungeschönter Blick über die Alpen, um einen Eindruck zu vermitteln, wie hoch das Risiko ist. Während hierzulande noch viele gerade von denen, die massiv Angst vor Klimawandel und Dieselruß haben, sich lustig machen über Mitbürger, die Vorräte anlegen, sind aus Italien Videoaufnahmen von unendlich langen Warteschlangen vor Supermärkten zu sehen.
Natürlich gehört es zur Aufgabe von Medien, verantwortlich zu sein und keine Panik zu schüren. Aber Verharmlosung, Verschweigen und Vertuschen von Problemen ist nicht minder gefährlich.
Kaum thematisiert werden auch himmelschreiende Widersprüche wie der Rat von Kanzlerin Merkel, soziale Kontakte zu minimisieren, bei gleichzeitiger Erklärung von ihr, es werde keine generellen Schulschließungen geben. Auch wenn es harsch klingt: Das ist entweder schizophren. Oder üble Heuchelei aus Angst um die Wirtschaft, in Tateinheit mit Für-Blöd-Verkaufen der Bürger. Menschenleben sollten Vorrang haben. Und eine Presse, die ihre Aufgabe als Kontrolleur der Regierenden ernst nimmt und sich nicht als Hofberichterstatter sieht, müsste solche Widersprüche breit aufgreifen und diskutieren.
Ebenso wie eine andere haarsträubende Nachricht. Wir befinden uns in einer Situation, in der wir vor dramatischen Herausforderungen stehen, Mediziner erschreckende Zustände beklagen, Berlins Amtsärzte warnen, Abwarten könne tödlich sein, in der die Abstimmung zwischen Bund und Ländern sowie zwischen den Ländern ganz offensichtlich massive Probleme schafft, die zu lösen absolute Priorität haben müsste. Und was machen unsere MInistepräsidenten bei ihrer Zusammenkunft gestern? Befassen sich mit der Fernsehgebühr und erhöhen sie. Um sage und schreibe fast fünf Prozent. Diese Zahl wird in vielen Medien gar nicht genannt. Weil es viel harmloser klingt, wenn von „86 Cent“ im Monat Erhöhung die Rede ist?
Stattdessen gibt es – natürlich nicht nur, aber viel zu viel – Bauchpinselei. Unter dem Titel „Der Corona-Krisenmanager“ schreibt tagesschau.de: „Ein Showpolitiker und ,Wadenbeißer´: Jens Spahn wurde in der Vergangenheit viel vorgeworfen. In der Corona-Krise aber gibt es parteiübergreifend viel Lob für den Gesundheitsminister.“ Noch bunter treibt es RTL: „Forsa-Umfrage im Auftrag von RTL Deutsche finden: Spahn macht in der Corona-Krise einen guten Job“. Das klingt einerseits so glaubhaft wie kürzlich die Schlagzeilen, die Deutschen zahlten laut Umfragen gerne Steuern. Andererseits hat es eine gewisse Logik, dass Lobhudelei der Medien statt kritischer Berichterstattung Wirkung zeigt – wenn etwa die BILD-Zeitung titelt: „DER ANPACK-MINISTER – Wie Jens Spahn das Land durch die Corona-Krise führt. Weitere Schlagzeilen: „Jens Spahn überzeugt als Krisenmanager“, „Jens Spahn: In doppelter Krise zeigt er, was er kann“, „Merkel agiert in der Corona-Krise wohltuend unaufgeregt„. Die Liste ließe sich lange fortsetzen.
Mit Journalismus hat das nicht mehr viel gemein. Aber schlimmer noch: Das Klima hat sich in den sozialen Medien und insbesondere im Kollegenkreis so gedreht, dass solche Bauchpinselei offenbar als normal angesehen wird – und Kritik als anstößig, ja Hetze. Man muss sich Vorwürfe anhören muss, wenn man Probleme anspricht und kritische Fragen stellt – also das tut, was die Grundaufgabe von Journalisten ist.
„Jetzt ist es an jedem Einzelnen von uns, solidarisch zu sein und Bedürfnissen zu helfen, anstatt zu kritisieren“, schrieb mit ein Leser auf meine kritischen Berichte zum Corona-Krisenmanagement. Andere wunderten sich über meine Kritik an der Tagesschau – die berichte seien doch „gut“. Offenbar setzt hier ein Gewöhnungseffekt an Verlautbarungs-Verlesung anstelle von Journalismus ein. Wenn Journalisten solidarisch sind mit der Regierung, sind sie Propagandisten. Journalismus muss anecken, braucht Mut, Konfliktbereitschaft – vor allem mit den Mächtigen. Das, was die Spanier und die Russen „Eier“ nennen. Dass einige beim Kritisieren auch über das Ziel hinausschießen , ist Teil des Kontrollmechanismus und damit sogar notwendig. Verheerend ist hingegen mutloser, kastrierter „Journalismus“: Wenn stromlinienförmige Opportunisten den Ton angeben mit vorauseilender Konfliktscheue und siebtem Sinn für die Wünsche der jeweils nächsthöheren Instanz. Oder ideologische Gesinnungskrieger, die „Haltung“ über alles stellen. Diese beiden Typen – die es schon immer gab und die oft in ein und derselben Person anzufinden sind, seit wir eine linksgrüne Kanzlerin haben – haben den Journalismus in Deutschland zu weiten Teilen übernommen.
Das ist fatal, weil die Kontrollfunktion der Medien ein wesentlicher, unabdingbarer Grundpfeiler einer Demokratie ist. Wenn sie nicht mehr funktioniert, führt genau das zu den Zuständen, wie wir sie heute in Deutschland erleben: Dass Missstände nicht mehr erkannt und deshalb auch nicht, zumindest nicht rechtzeitig, behoben werden können. In der Corona-Krise kann das Menschenleben kosten. Aber – wenn auch um diesen unerträglichen Preis – vielleicht auch Chancen eröffnen: Dass mehr Menschen dieses grundlegende, schwerste Problem unserer Gesellschaft – das Nicht-Aussprechen und Tabuisieren von Problemen und heiklen Themen – erkennen und eine Besinnen mit folgender Wende zum Besseren stattfindet.
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