Als Bundeskanzlerin ist Angela Merkel eine der höchsten Repräsentantinnen unserer Demokratie. Eine der wichtigsten Grundlagen der Demokratie ist, dass Entscheidungen der Regierungen diskutiert werden und diese sich Kritik stellen müssen. In einer föderalen Demokratie wie der Bundesrepublik kommt noch hinzu, dass es eine strikte Verteilung von Kompetenzen zwischen Bund, Ländern und Kommunen gibt.
Die Gründungsväter der Bundesrepublik hatten ihre Gründe dafür, unser Land föderal aufzubauen. Es war eine der wichtigen Lehren aus dem Nationalsozialismus mit seiner starken Zentralisierung, als alles von Berlin aus entschieden wurde. Jetzt in der Krise hadern viele mit dem Föderalismus – ich zuweilen auch. Aber er hat auch ganz eindeutig Vorteile: Es gibt einen Wettbewerb um die besten Lösungen, also Konkurrenz. Die ist immer gut. Erst hat Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die anderen Politiker vor sich hergetrieben, als es um einschneidende Maßnahmen ging. Jetzt treiben andere ihre Kollegen vor sich her, wenn es darum geht, eben einen Ausstieg aus diesen einschneidenden Maßnahmen zu finden.
Das ist gut so. Die Beschneidung der Grundrechte ist so riesig, so einzigartig, so dramatisch, dass sie jeden Tag aufs Neue geprüft werden muss. Dass die Verantwortlichen jeden Tag Rede und Antwort stehen und ihr Handeln begründen müssen. So ist das in den USA bei Donald Trump, der massiv attackiert wird von Medien und Opposition, und so ist es auch in anderen Ländern, in denen die Demokratie funktioniert.
Die Kanzlerin hat heute diesen demokratischen Diskurs, der zwingend notwendig ist, als „Öffnungsdiskussionsorgien“ abgetan. Das ist eine unerträgliche Verhöhnung des wichtigsten demokratischen Grundprinzips. Und Zynismus gegenüber all den Menschen, die unter den Einschnitten leiden, ja um ihre Existenz zittern. Das, was Merkel als Orgie bezeichnet, ist Demokratie. Und das, was sie offenbar durchsetzen will, das Gegenteil davon: Ein Verbot von Diskussionen.
Angela Merkel hat dafür offenbar ihre Gründe. Mehrmals hat sie im Laufe der Krise, die sie zunächst verschlafen hat, die Maßstäbe für den Lockdown geändert oder ändern lassen und damit faktisch ihr Wort gebrochen (siehe Video hier). Ja, es mag Gründe dafür geben, dass sie ihre Einschätzung geändert hat. Aber sie ist verpflichtet, diese dazulegen. Offenbar scheut sie sich davor – denn sie müsste damit Fehler zugeben. Und sie müsste damit ihre Bürger wie erwachsene Menschen behandeln, denen sie Rechenschaft schuldig ist.
Stattdessen geht sie mit den Bundesbürgern um, wie autoritäre Eltern mit Kindern, denen man sagt, was sie zu tun haben, ohne es zu erklären. Das ist nicht neu: Schon früher warnte sie davor, zu früh über Lockerungen zu sprechen. Aber diesmal war es noch schlimmer: Sie macht sich auf eine unerträgliche, zynische Weise über die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit und Normalität lustig. Ich bin überzeugt: Die meisten von uns sind bereit, Opfer zu bringen, ja selbst zeitweise auf Grundrechte zu verzichten. Aber wir sind nicht bereit, uns wie kleine Kinder behandeln, bevormunden und für dumm verkaufen zu lassen.
Frau Merkel, hören Sie auf, demokratische Grundsätze zu verhöhnen! Sprechen und diskutieren muss man in einer Demokratie immer, über alles, und wer ein Diskussionsverbot durchsetzen will, entlarvt sich damit als jemand, der undemokratisch agiert. Oder zumindest undemokratische Angewohnheiten an den Tag legt. Ob dies an der langen Regierungszeit von fast 15 Jahren liegt, die für jeden eine Herausforderung wäre, oder andere Ursachen hat, sei dahin gestellt.
Dass wir eine Kanzlerin haben, die sich von der Demokratie abgehoben hat, wäre auch in ruhigen Zeiten beunruhigend. In der Krise ist es ein Risiko für unsere Demokratie – umso mehr, als sich viele Menschen offenbar damit anfreunden und ihren undemokratischen Ansatz befürworten. Das zeigt, auf welchem wackeligen Boden das Verständnis von Demokratie und Freiheit bei vielen hierzulande noch steht.
Bild: Pixabel