Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl. Die gebürtige Petersburgerin lebt seit über 15 Jahren in Berlin.
Vor einigen Tagen berichtete ich über eine alte, einsame, schwer kranke Frau mit typischen Corona-Symptomen (Link), der ich versuchte zu helfen, und wie ich dabei fast gescheitert bin – an Behörden und Hilfsorganisationen.
Bevor ich erzähle, was für eine Odyssee ich mit der alten Nachbarin weiter erlebte, möchte ich ein paar Fragen in den Raum stellen.
- Soll jemand auf Corona getestet werden, wenn er seit Tagen die typischen Corona-Symptome hat und diese so fortgeschritten sind, dass er sagt, er könne nicht mehr aufstehen und bekomme keine Luft mehr?
- Ist jemand hilflos, wenn er auf dem Boden liegt und stundenlang nicht aufstehen kann?
- Kann man so jemanden einfach weiter allein in der Wohnung liegen lassen, weil er in einem kurzen wachen Moment sagt, dass er nicht ins Krankenhaus will?
Für mich waren diese Fragen gestern und vorgestern sehr existentiell.
Nach meinem ersten Bericht bekam die alte, kranke Frau Hilfe – ein Arzt und Caritas haben sie besucht. Ich versorgte sie mit Essen und Medikamenten. Es schien ihr wesentlich besser zu gehen. Doch dann auf einmal verschlechterte sich ihr Zustand massiv – sie konnte nicht mehr aufstehen und bekam kaum noch Luft. Ich musste schließlich die Feuerwehr rufen. Die kam auch. Sogar zweimal. Nur fuhr sie wieder weg. Ohne die alte Frau. Aber ich will nicht vorgreifen, alles der Reihe nach:
Gestern früh ging die Nachbarin dann nicht mehr ans Telefon. Ich versuchte es immer wieder, stundenlang, aber sie ging nicht ran. Als ich zu ihrer Wohnungstür ging und vor dieser stand, konnte ich ihre Stimme hören, aber offensichtlich war sie nicht in der Lage, die Tür aufzumachen. Also rief ich die Feuerwehr. Und was dann passierte, hätte ich mir zuvor trotz meiner Erfahrung mit dem Rettungsdienst in Russland der 1990er, 2000er und 2010er Jahren nicht vorstellen können.
Nach ca. 5 Minuten kamen zwei Feuerwehrautos und die Polizei – offensichtlich, um dabei zu sein, wenn die Feuerwehr die Wohnungstür aufbricht. Ein Nachbar, der zufällig vorbeikam, hatte die Telefonnummer von dem Hausmeister – den hatten die Feuerwehrleute schon vorab gesucht, damit er ein neues Schloss einbauen kann, wenn sie die Tür aufgebrochen haben.
Durch die Balkontür (im Erdgeschoss) konnten die Feuerwehrmänner sehen, dass die Frau auf dem Boden liegt und versucht, aufzustehen. Vergeblich. Sie bohrten mit schrecklichem Lärm das Schloss der Tür auf und die Rettungssanitäter konnten endlich in die Wohnung. In Schutzkleidung und mit Mundschutz. Ich stand draußen und sprach mit der Polizei. „Gott sein Dank, jetzt kommt die arme Frau ins Krankenhaus.“, sagte ich. „Das wissen wir noch nicht. Es hängt davon ab, was Feuerwehr sagt, wir sind da keine Fachleute“, sagte einer der Polizisten.
Nach ca. fünf Minuten kam einer der Rettungssanitäter raus und sagte: „Ne, nehmen wir nicht mit. Sie ist bei Bewusstsein und reagiert auf alles. Sie ist nur dehydriert, muss halt viel trinken.“ Vor Schreck konnte ich ein paar Sekunden nicht sprechen, fragte dann aber: „Aber…aber sie lag doch offensichtlich mehrere Stunden auf dem Boden und konnte nicht aufstehen.“ Der Rettungssanitäter antwortete: „Sie erkannte zwar nicht sofort, dass sie zuhause ist, sagte dann aber, sie will nicht ins Krankenhaus. Wir können sie nicht mitnehmen, wenn sie sagt, dass sie nicht mitkommen will.“ Dann ging er wieder in die Wohnung der Nachbarin zurück.
Während der Rettungssanitäter wieder in der Wohnung war, erzählte mir der Polizist: „Was meinen Sie, wie viele alte Menschen in einem noch schlechteren Zustand in ihren Wohnungen verlassen liegen und dennoch nicht ins Krankenhaus genommen werden, weil sie es nicht wollen.“ Das sei das Selbstbestimmungsrecht jedes Menschen und das dürfe man nicht verletzen. Ich konnte nur damit argumentieren, dass dies doch dazu führe, dass die Frau völlig hilflos allein gelassen wird. Und egal, wie viele Lebensmittel und Medikamente ich der Frau vor die Tür stelle, wenn sie nicht in der Lage ist, diese zu öffnen, ist ihr damit nicht geholfen. Und es gebe sonst niemanden, der der erkrankten Frau helfen kann. Und offensichtlich brauche sie Hilfe. Der Polizist sagte dann immer wieder, dass es der Frau gar nicht so schlecht gehe, dass sie entgegen ihrem Wunsch unbedingt ins Krankenhaus gebracht werden muss. Als Beispiele für einen „ausreichend schlechten Zustand“ nannte der Polizist Beinbrüche, akute Lebensgefahr etc.. Der Zustand, in dem ein dehydrierter alter Mensch mit schweren Symptomen, die eventuell Corona-Symptome sind, in seiner Wohnung gestürzt und stundenlang nicht in der Lage ist, vom Boden aufzustehen, wird offensichtlich nicht als „ausreichend schlechter Zustand“ eingestuft.
Der Rettungssanitäter kam wieder raus. Mit dem gleichen Ergebnis: Die Frau bleibt zuhause, sie will nicht ins Krankenhaus und deshalb könnten sie sie nicht mitnehmen. „Aber“, sagte der Rettungssanitäter, „wir haben sie ins Bett gelegt. Es kommt bald eh ihr Pflegedienst und wird auf sie aufpassen. Sie sagte, er kommt fünfmal die Woche.“ Ich erzählte dem Mann, was ich inzwischen wusste: „Die Frau hat einen privaten Pflegedienst, er kommt nur dann, wenn sie ihn selbst anruft. Nach meinem Wissen ist es immer nur einmal die Woche.“ Der Rettungssanitäter sagte dann, die Frau meinte, ich hätte den Schlüssel von ihrer Wohnung. Ich verneinte. Die alte Frau war offensichtlich verwirrt und hat einiges durcheinander gebracht.
Jemand fragte, ob ich dann einverstanden wäre, den Ersatzschlüssel von der Wohnung zu nehmen. Ich sagte „Ja.“ Inzwischen hatte sich aber herausgestellt, dass die Frau eine Tochter hat (was sie mir per Telefon nie verraten hatte), dass sie aber zu dieser keinen Kontakt hat. Dieser Fakt reichte aber, dass die Frage mit dem Schlüssel sofort ihre Relevanz verlor. „Nicht dass Ihnen danach Vorwürfe gemacht werden, dass Sie was aus der Wohnung genommen hätten“, scherzte der zweite Rettungssanitäter.
Ich habe dann gefragt, was mir in dieser Situation sehr logisch schien: „Angenommen, die alte Frau bekommt es hin, den Pflegedienst telefonisch zu bestellen, ist sie doch offensichtlich nicht in der Lage, aufzustehen und dem Pflegedienst die Tür aufzumachen. Wie soll das funktionieren?“. „Sie rufen dann die Feuerwehr und sie bricht die Tür wieder auf!“, sagten mir die Rettungssanitäter. Diese Antwort hat mich fast umgeworfen: „Verstehe ich Sie richtig: Wenn der Pflegedienst kommt, soll ich die Feuerwehr rufen, damit sie die Tür aufbricht und der Pflegedienst reinkommen kann? Soll ich das jedes Mal machen?“. Nachdem ich ein harmonisches Mehrstimmen-Ja von den versammelten Beamten hörte, fühlte ich mich mit meinem logischen Gedankengang in eine Sackgasse gedrängt.
„Fürs erste rufen wir aber selbst die Caritas an. Außerdem könnte man ja einen sozial-psychiatrischen Dienst für die Frau organisieren, das würde aber lange dauern und wir sind dafür nicht zuständig“, sagte einer der Polizisten.
Nun gingen die beiden Ordnungshüter in die Wohnung der alten Frau. Die Rettungssanitäter gingen zu ihrem Krankenwagen und fingen an, ihre Schutzkleidung auszuziehen und in einen blauen Sack zu legen, Hände und das Equipment zu desinfizieren. Sie schlossen offensichtlich ihren Einsatz ab. Einer der beiden Rettungssanitäter sagte mir dann freundlich: „Versuchen Sie mit der kassenärztlichen Vereinigung zu sprechen. Das sind Ärzte. Vielleicht können sie die Frau überreden, mit ins Krankenhaus zu kommen.“. Ich fragte dann nach der Telefonnummer von diesem Dienst. „Na die 116 117“ (Über meine Erfahrung mit dieser Nummer können Sie im ersten Teil dieser Geschichte lesen – ich kam da nie durch).
Nach ein paar Minuten kam einer von den beiden Polizisten raus und sagte: „Sie muss doch mit. Sie bat mich eben um Hilfe, damit sie vom Bett aufstehen kann, um zur Toilette zu gehen. Wir bereiten jetzt doch alles vor.“ Nach einer kurzen Nachfrage fingen die Rettungssanitäter an, neue Schutzkleidung anzuziehen. Nach einigen Minuten kam der zweite Polizist aus der Wohnung raus und sagte: „Wir nehmen sie doch nicht mit. Als sie verstanden hat, dass wir sie jetzt doch ins Krankenhaus bringen, ist sie aufgestanden und konnte sich selbständig durch die Wohnung bewegen. Wir können nichts machen. Das ist der freie Wille eines Menschen, gegen den wir nicht handeln dürfen. Wir machen uns sonst strafbar.“
Die Rettungssanitäter zogen ihre Schutzkleidung zum zweiten mal aus, desinfizierten sich wieder die Hände und räumten ihr Equipment wieder weg. Sie schlossen ihren Einsatz ab und fuhren weg. Einer der Polizisten sagte mir abschließend „Rufen Sie ihr heute Abend und dann morgen früh an. Wenn sie nicht ran geht, rufen Sie die Feuerwehr. Und dann aber nehmen wir die Frau mit.“
Völlig erschlagen ging ich nach Hause. Das Ergebnis vom Ganzen war folgendes: Die Feuerwehr hat die Wohnungstür aufgebrochen, die alte Frau vom Boden auf das Bett gelegt, keinerlei medizinische Hilfe geleistet und ist weggefahren, weil die Frau nicht mit ins Krankenhaus wollte. Niemand hatte den Schlüssel von der Wohnung der alten Frau. Und selbst wenn ihn jemand hätte, wer würde sich trauen, ohne Schutzkleidung die Wohnung zu betreten, in der möglicherweise eine an Corona erkrankte Frau sich befindet? Es war mir klar, dass auch meine Hilfe mit „etwas abstellen vor der Tür“ völlig nutzlos ist, weil die Frau nicht lange in der Lage sein wird, auf ihren Beinen zu stehen. Und deshalb war es mir auch klar, dass sich die Geschichte wenige Stunden später wiederholen wird.
Das passierte dann auch. Dennoch mit einem Unterschied, der einem Zufall zu verdanken ist.
Die alte Frau ging abends erneut nicht ans Telefon. Und auch am nächsten Morgen nahm sie nicht ab. Mit schlimmsten Folgen rechnend rief ich erneut die Feuerwehr. Was dann geschah, brauche ich nicht mehr ausführlich zu beschreiben, das steht schon im Text oben: Feuerwehr, Rettungssanitäter und Polizei kommen. Die Tür wird aufgebrochen. Die im Bett liegende Frau lebt – ein Glück! – und ist bei Bewusstsein. Also: Kein Krankenhaus. Die Feuerwehr und die Rettungssanitäter fahren wieder weg.
Die Polizei bleibt und wartet auf den Schlosser, der das Schloss wieder einbauen soll. Die Rechnung dafür – so die Polizei – muss die Frau bezahlen. Einer der beiden Polizisten fragt nach dem Hausmeister. Sie wählten die Nummer, die an der Infotafel im Hausflur angegeben wurde. Es stellte sich aber heraus, dass dies die Nummer von dem alten Hausmeister ist, der schon lange nicht mehr im Dienst ist. Wie der Zufall es will, hatte aber der nette Herr die Telefonnummer von der Tochter der alten Frau. Er rief der Tochter an und die kam dann auch sofort.
Fassungslos ging ich nach Hause. Von meiner Telefonnummer, die ich der Tochter der alten Frau gab, machte diese wenige Stunden später Gebrauch rief mich an und sagte mir, dass die Polizei die Frau doch überreden konnte, mit ins Krankenhaus zu kommen.
Wäre aber die Tochter, die offensichtlich keinen (zumindest regelmäßigen) Kontakt mit ihrer Mutter hat, nicht durch Zufall gefunden worden, wäre die Frau wieder krank und völlig hilflos in ihrer Wohnung zurückgelassen, genauso wie am Tag zuvor und womöglich am Tag danach.
Die Antworten auf die Fragen, die ich am Anfang meiner Geschichte stellte, sind für mich völlig klar. Und obwohl ich die Gesetze, die verbieten, einen Menschen gegen seinen Wille in ein Krankenhaus zu bringen, verstehe und die moralische Seite, die die Grundlage für diese Gesetze ist, zweifellos akzeptiere, frage ich mich immer wieder: Was ist das Ergebnis der Handlung, die für die Hilfsorganisationen offensichtlich mit einem moralischen Dilemma verbunden ist, für diese alte kranke Frau? Ist das Ergebnis, dass sie in dem Zustand gelassen wurde, in dem sie aufgefunden wurde: schwer krank – möglicherweise mit Corona – und hilflos, und zwar nur, weil sie in einem kurzen Moment der Klarheit Angst bekommen hat, ins Krankenhaus zu kommen?
Denn wenn das das Ergebnis ist, können wir dann noch sicher sein, dass Hilfsorganisationen, die dafür da sind, uns erste Hilfe zu leisten und unsere Leben zu retten, die möglicherweise in diesen schweren Zeiten für viele letzte Hoffnung sein werden, dies dann auch machen werden, wenn wir sie rufen?
P. S.: Im übrigen muss ich dazu sagen: Bis auf die Tatsache, dass die Feuerwehrmänner – und später dann die Polizei – Schutzkleidung getragen haben, und mir verboten, die Wohnung der Frau zu betreten, wurden ihre Corona-Symptome kein einziges Mal im Laufe des ganzen Geschehens thematisiert.
Dieser Artikel ist auch auf dem Blog der in Berlin lebenden, gebürtigen Petersburgerin von Ekaterina Quehl „Mein Leben in den Zeiten von Corona“ erschienen, den ich sehr empfehle.
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