Wie Karlsruhe die ARD zum Irrlichtern bringt

„Erstmals in seiner Geschichte stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass Handlungen und Entscheidungen europäischer Organe offensichtlich nicht von der europäischen Kompetenzordnung gedeckt sind und daher in Deutschland keine Wirksamkeit entfalten können“: Es war eine Ohrfeige sondergleichen, was der scheidende Bundesverfassungsgerichts-Präsident Andreas Voßkuhle gestern in Karlsruhe mit bitterernster Miene vortrug.

Die 20-Uhr-Tagesschau in der ARD versuchte nach Kräften, die Ohrfeige nicht als solche erscheinen zu lassen: Das Zitat Voßkuhles wurde zwar gesendet, aber in dem entsprechenden Beitrag und der Anmoderation wurde die Brisanz des Urteils kaum deutlich gemacht. Der Sprechertext klang in Teilen wie eine Werbesendung für die Europäische Zentralbank (EZB): Diese sei politisch unabhängig, hieß es da. Dabei werfen ihr Kritiker das Gegenteil vor. Der EZB sei es nicht erlaubt, Wirtschaftspolitik zu machen, war in dem Beitrag weiter zu hören. Dabei macht sie genau dies nach Ansicht skeptischer Beobachter ganz massiv.

Zuschauer, die nicht mit dem Thema befasst sind, konnten sich deshalb kaum eine Vorstellung von der Tragweite des Verfassungshüter-Beschlusses machen. Und auch nicht davon, was hinter dem Programm der Anleihenkäufe steckt: Dass dieses nach Ansicht von Kritikern mit dem Drucken von Geld vergleichbar ist. Und bereits zu massiven Folgen etwa für Sparer und Mieter geführt hat. Das wurde in dem ARD-Beitrag nur ganz am Schluss durch ein kurzes Zitat von Peter Gauweiler angedeutet. Echter Journalismus soll aufklären. Der Tagesschau-Beitrag verschleierte eher. Der Beitrag in der „heute“-Sendung um 19 Uhr im ZDF dagegen war deutlicher und verwies zumindest auf die Folgen der Anleihenkäufe.

Um die gesamte Bedeutung der Karlsruher Entscheidung zu erfassen, mussten man gestern kritische Zeitungsbericht lesen. „Dieses Urteil wird europäische Rechtsgeschichte schreiben“, sagte Friedrich Merz dem Handelsblatt: „Die Aufforderung des Bundesverfassungsgerichts, die Aufkaufprogramme der EZB ab sofort auch auf ihre wirtschaftspolitischen Folgen für Sparer, Versicherungsnehmer, Mieter, Hauseigentümer und Aktionäre zu untersuchen und eine Folgenabwägung der EZB-Entscheidungen mit aufzunehmen, verdiene besondere Beachtung.“

Weiter heißt es in dem Beitrag: „Das Bundesverfassungsgericht attestiere dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) in deutlichen Worten eine Kompetenzüberschreitung („ultra vires“) durch eine unzureichende Begründung seiner Entscheidung, die im Urteil als ,schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar´ bezeichnet werde. ,Diese Wortwahl der Verfassungsrichter offenbart ein tiefes Zerwürfnis mit dem EuGH´.“

Das EZB-Aufkaufprogramm habe „erhebliche ökonomische Auswirkungen auf nahezu alle Bürgerinnen und Bürger, die als Aktionäre, Mieter, Eigentümer von Immobilien, Sparer und Versicherungsnehmer betroffen sind‘, sagte Voßkuhle. Im Urteil heißt es, das entgegenstehende Urteil des EuGH sei partiell „schlechterdings nicht mehr nachvollziehbar.'“ Der Kommentar des Anwaltes Joachim Steinhöfel dazu: „Das sind ungeheuer deutliche Worte, in der konkreten Konstellation geradezu einzigartig in der Rechtsgeschichte. Übersetzt heißt das auch: Wir haben es mit einer in Teilen praktisch verfassungswidrigen Enteignung der Bürger durch die ihr Mandant offenbar überschreitende Politik der EZB zu tun.“

Wenn man all diese Hintergründe kennt, wirkt es umso erstaunlicher, was tagesschau.de zu dem Urteil schrieb. Jerzy Maćkóv, Professor für Politikwissenschaften an der Universität Regensburg, kommentierte die „Analyse“ auf dem öffentlich-rechtlichen Portal wie folgt: „Was soll man über den Kommentar der ARD zum neuen Urteil des Bundesverfassungsgerichts sagen? Die ARD befürchtet, dass die staatliche Souveränität Polens und Ungarns durch dieses Urteil gestärkt werden könnte.“

Nur wenige würden die Hintergründe des Urteils kennen, glaubt der Professor: „Weshalb kaum jemand in Deutschland dessen Brisanz begreifen wird. Um es auf den Punkt zu bringen: Das Gericht hält die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank in einem Punkt für vertragswidrig. Dazu der entsetzte ARD-Schreiber: ,Es ist zugleich eine wüste Attacke gegen die Kolleginnen und Kollegen des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg (EuGH), die Ende 2018 das Anleiheprogramm billigten: aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts eine – die Wortwahl muss man sich auf der Zunge zergehen lassen – ’schlechterdings nicht mehr nachvollziehbare‘ Entscheidung. Heftiger kann man die Rechtsprechung eines Gerichts kaum in Grund und Boden stampfen“.

Hintergrund für die Empörung in der tagesschau-Analyse laut Maćkóv: „Das Bundesverfassungsgericht unterstützt die Position der Staaten, die einige Urteile des Europäischen Gerichtshofs zu recht für ausufernd und vertragswidrig halten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt zugleich beiläufig seine Unabhängigkeit (von der deutschen Regierungspolitik und dem oft ebenso ahnungslosen wie arroganten Mainstream der sich selbst zerfleischenden Medien in der Bundesrepublik). Deshalb der wilde Ton des ARD-Kommentars.“

Das Fazit des kritischen Professors: „Nur ein demokratische EU dürfte sich anmaßen, sich über das Recht der demokratischen Nationalstaaten zu erheben. Will man die EU retten, muss man sie demokratisieren!“

Umso mehr war Maćkóv überrascht, als er den Beitrag nach seinem kritischen Kommentar noch einmal abrief: „Der vor mir gepostete ARD-Artikel enthält nicht mehr die Passage, die ich gestern zitiert habe. Ebenso werden die ´osteuropäischen Problemländer´ nicht mehr beschimpft. Dadurch ist der Artikel aber nicht klüger geworden, weil er das Hauptproblem, nämlich den unvermeidbaren Konflikt zwischen der nicht-demokratischen EU und dem EGH einerseits und den demokratischen, souveränen EU-Mitgliedsstaaten und ihren Gerichten andererseits nicht deutlich genug thematisiert. Er tut es nicht, weil die Demokratisierung der EU in Deutschland aus nationalen Gründen nicht populär ist. Interessant, wie es in der ARD dazu kommt, dass ein publizierter Kommentar geändert wird.“

Maćkóv hat Recht: Via google-Suche ist noch nachweisbar, dass die entsprechenden Stellen in dem Beitrag waren – und jetzt fehlen. Die ARD streicht also nachträglich brisante Passagen aus einem Artikel – und macht diese Änderung nicht einmal deutlich, und begründet sie auch nicht. Es wäre interessant, zu erfahren, ob der Autor plötzlich seine Meinung geändert hat. Oder ob die Stelle auf andere Art und Weise verschwunden ist.


Bild: ARD/Screenshot

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