„Isch schwör, isch mach dich kalt, Alter!“

Es waren Szenen, wie man sie eher aus irgendwelchen dubiosen Reality-Shows bei Sendern aus der dritten Reihe kennt: Um ein Haar hätte es eine handfeste Schlägerei gegeben vorgestern in meinem Rewe-Laden mitten im Herzen von Charlottenburg. Zu später Stunde, zu der ich jetzt vorzugsweise einkaufen gehe, weil dann keine Warteschlangen vor den Geschäften sind. Ein Mann in mittleren Jahren – so erzählte mir der Kassierer – hatte beim Bezahlen den Eindruck, dass der hinter ihm stehende Mann ihm zu nahe gekommen sei, und ihm gesagt, er solle Abstand halten.

Ob diese Aufforderung höflich oder eher im Befehlston erfolgte, entzieht sich meiner Kenntnis, aber offenbar gingen die Meinungen darüber auseinander: Der so Angesprochene fand die Tonart allem Anschein nach nicht der Situation angemessen. Jedenfalls war es ein lautes, wüstes Geschrei zwischen den beiden, durch das ich auf die Situation aufmerksam wurde. Die weibliche Begleiterin, mit der einer unterwegs war, wurde ebenso lautstark wie zärtlich als „Hure“ bezeichnet, im Gegenzug eröffnete die bessere Hälfte der derart titulierten Dame mit dem dicken Lippenstift dem so uncharmant antichambrierenden Single-Widerpart so lautstark, dass es wohl auch noch hinten im Tiefkühl-Bereich zu hören war, dass er seine Mutter gevögelt habe. Auf diesem Niveau ging es noch eine Weile hin und her.

Der Wachmann, der immer, wenn ich dort bin, den Eindruck erweckt, er könne im Stehen schlafen, war zuerst gar nicht zu sehen, und als er sich dann den beiden Streithähnen näherte, schien er immer noch im Halbschlaf, jedenfalls machte er nicht mal den Versuch, verbal zu intervenieren. Das tat der Kassier. Und als ich schon in Deckung ging – nach den Worten: „isch schwör, isch mach dich kalt, Alter!“ – schien durch irgend eine glückliche Fügung ein Friedensengel in den Markt geschwebt zu sein, denn die zwei bzw. drei, wenn man die inzwischen kräftig mit schimpfende Begleiterin mit einrechnet, gingen auseinander. Immer noch laut aufeinander schreiend, aber zumindest ohne Handgemenge.

„Kommt so was öfter vor in letzter Zeit?“, fragte ich den jungen Kassierer mit Mundschutz, als ich an der Reihe war: „Oh ja“, sagte er freundlich: „das erleben wir gerade oft, dass sich die Menschen in die Haare geraten, die Nerven liegen blank, absolut“. Da könne man nur hoffen, dass es nicht noch schlimmer werde, wenn jetzt die ganzen Maßnahmen noch weiter in Kraft bleiben, sagte ich. Er lächelte bitter: „Das kann noch heiter werden.“

Das Virus bringt die Menschen zusammen. Im Guten wie im Schlechten. Die einen helfen ihren Nachbarn, machen Besorgungen für andere Menschen – die anderen rücken im Supermarkt unachtsam anderen auf die Pelle, wieder andere pöbeln sie genau dafür aggressiv an. In Ausnahmesituationen zeigt sich der wahre Charakter. Und bei manchen Menschen würde man den lieber nicht sehen.

Wie bei der Dame, die kürzlich im DM-Drogeriemarkt fast hysterisch wurde, weil ihr die Kassiererin von den fünf Flaschen Hafermilch, die sie als H-Milch-Ersatz kaufen wollte, nur drei verkaufte. In dem lautstarken Wortgefecht hatte man zeitweise den Eindruck, es ginge um Leben und Tod. Und alle, die darum herumstünden, seien blind und taub zugleich, weil sie konzentriert den Eindruck machten, sie würden nichts mitbekommen. Als die Kundin immer rasender wurde und sagte, sie habe ein Recht auf fünf Flaschen und die Kassiererin sei verpflichtet, sie ihr zu verkaufen, machte ich den Fehler, den ich allzu oft mache: Ich mischte mich ein und sagte höflich, müssen müsse ein Geschäft gar nichts, und es hingen doch überall Anschläge, dass die Maximalmenge bei drei Packungen liegt. Wenn Blicke töten könnten, könnte ich diesen Beitrag nicht mehr schreiben. Auch aus der Schlange zog ich mir böse Blicke zu. Selbst die Kassiererin schien meine Intervention nicht zu schätzen und tat so, als habe sie sie nicht mitbekommen. Stattdessen verstaute sie die beiden abgenommenen Hafermilch-Flaschen unter dem Tresen.

In dem gleichen DM-Markt muss man neuerdings immer einen Korb oder einen Wagen nehmen – zur Zählung der Kunden. Dabei werden die Griffe so flüchtig eingesprüht, dass ein zähes Virus darüber wohl nur lachen kann. Im zweiten DM-Markt zwei Minuten Fußweg entfernt gibt es keine derartige „Korb“-Pflicht. Sie besteht wieder im eingangs erwähnten Rewe-Markt, wo man wenigstens ehrlich ist und nicht mal so tut, als würde man die Griffe desinfizieren. Wenn schon Corona verbreiten, dann volle Pulle! Im Netto-Markt um die Ecke wiederum gibt es nicht mal Körbe, geschweige denn eine Pflicht, sie oder einen Wagen zu benutzen.

Genau so wenig logisch erscheint mir die in Aussicht gestellte Regelung, dass Geschäfte bis 800 Quadratmeter wieder öffnen dürfen, größere aber nicht. Meine bescheidenen mathematischen Kenntnisse legen mir nahe, dass der Abstand umso leichter einzuhalten ist, umso größer der Raum – aber wahrscheinlich bin ich zu dumm, und das ist höhere Mathematik. Ebenso wie das mit den Masken. Ich wurde noch verlacht, als ich vor einiger Zeit berichtete, dass am Moskauer Flughafen alle Mitarbeiter Masken tragen. Später hieß es auch regierungsoffiziell, einfache Masken bringen nichts. Jetzt bringen sie doch was.

Der Wechsel zwischen Verschwörungstheorie und regierungsamtlicher Version ist rasant in diesen Tagen – ob bei Grenzschließung, Masken, Beschränkungen der Freiheit oder vielem anderen mehr. Ein Freund von mir darf nicht mehr auf seine Datsche in Mecklenburg-Vorpommern, während seine Nachbarn ein paar hundert Meter weiter ihre seelenruhig bewohnen dürfen, weil sie in Brandenburg liegen. Bewohner eines brandenburgischen Dorfs, das eine Art Enklave ist, dürfen nicht in die naheliegenden Supermärkte – weil die zu Brandenburg gehören. Sie müssen große Umwege in Kauf nehmen.

Ich bin seit Tagen beratend für meinen Hausmeister tätig, der aus Mecklenburg-Vorpommern stammt und seinen 80-Jährigen Vater besuchen will, aber sich nicht traut, weil ständig die Informationen wechseln und widersprüchlich sind – auch auf den offiziellen Seiten. Ich habe ihm gut zugeredet, dass er es wagt, und ihm ein paar Ausdrucke mit zur Hand gegeben. Wartete ich früher samstags auf die Fußballergebnisse (ich bin kein Fan, aber mein Heimatverein in Augsburg löst doch eine gewisse Verbundenheit aus), so warte ich jetzt auf die Nachricht von meinem Hausmeister, ob er es in seine (alte) Heimat schafft. Und ich drücke ihm genauso fest den Daumen wie sonst dem FCA – er hat das noch viel mehr verdient als Fußballer, weil er ein Pfundskerl ist. Aber der bekannte Profi, der über mir wohnt und seit Wochen kein Spiel mehr spielen kann, ist das auch. Seine Miene wirkt immer jedes Mal ein bisschen länger, wenn wir uns im Hof sehen. Ebenso die von einem Manager von einer bekannten DAX-Firma, der jetzt im Doppeljob tätig ist – Homeoffice am Handy und Kinderbetreuung im Hof in Personalunion. Die Shisha-Bar-Betreiber aus dem Vorderhaus ringen derweil um die Existenz und wollen schon ihren Parkplatz kündigen, während die Stewardess nebenan seit Wochen nicht nur auf dem Boden fest sitzt – schon vor dem Lockdown, weil sie einen Verdachtsfall im Flieger hat.

Auch das ist ein Effekt der Krise: Physisch hält man mehr Abstand, aber man kommt sich näher, in anderthalb Metern Distanz erzählt man – nachdem man jahrelang aneinander vorbei gelaufen ist – plötzlich (Lebens-)Geschichten. Bietet sich Hilfe an. Freut sich, dass bei dem ganzen Schrecken auch ein paar positive Aspekte zu entdecken sind. Klammert sich an diesen fest. Denn so viel hat man nicht zum Klammern in diesen Tagen. Ich bin heilfroh, dass ich diese Seite habe, und so viele, viele tolle Leser. Die mir schreiben, die unterstützten, die diskutieren. Ohne Sie wäre es für mich in dieser Krise viel einsamer und schwerer. Dafür will ich Ihnen allein einfach mal ganz, ganz herzlich danke sagen! Und mich sehr entschuldigen, dass ich es nicht immer schaffe, auf alle Zuschriften zu reagieren.

In diesem Sinne: Ich wünsche Ihnen Gesundheit, Gesundheit und nochmals Gesundheit! Passen Sie auf sich und Ihre Nächsten auf! Und schreiben Sie mir Ihre Geschichten!


Bild: Klaus Friese via Flickr, Lizenz CC BY-SA 2.0

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