Man kann über Angela Merkels und über ihre Ansprache unterschiedlicher Meinung sein. Das ist gut so, und das muss so sein in einem demokratischen Land – sonst wäre es nicht demokratisch. Umso erschreckender ist, wie sich nun manche fast schon hysterisch in untertäniger Lobhudelei vor die Kanzlerin auf die Knie werfen – und ihre Kritiker angreifen und diffamieren. In diesen Tagen kommt eine überwunden geglaubte, urdeutsche, erschreckende Lust am Autoritären zum Vorschein. Es riecht wieder nach etwas, wofür Deutschland einst berüchtigt und gefürchtet war: Den unbedingten, vorauseilenden Gehorsam und den unerschütterlichen Glauben an die oberste Person im Staate, ganz besonders im Angesicht der Katastrophe. Einst entlud sich das im Hurra-Patriotismus, und diesmal, in einer anders gestalteten, existentiellen Krise, und anders ausgeprägt, im Hurra-Merkelismus.
Aber der Reihe nach. Zu der Rede ist auch Kluges geschrieben worden, so dass ich auf einen persönlichen Kommentar verzichte und auf zwei kluge andere Texte verweise – die mir, das muss ich offen gestehen, so gut nicht gelungen wären. Vielleicht, weil es mir schwer fiel, der Rede bis zum Ende zu folgen. Mit einer empathielosen bzw. schlecht Empathie vorspielenden, starr in die Kamera schauenden und monoton vom Teleprompter ablesenden Kanzlerin mit ihren Phrasen, die mich teilweise an sozialistische Zeiten erinnern. Aber von Emotionen soll man sich nicht leiten lassen, insbesondere in Zeiten der Krise. Aber sie zu unterdrücken und sachlich zu bleiben, erfordert Energie, die im Moment für andere Dinge wie etwa Besorgungen und Texte notwendiger ist. Daher statt meiner Einschätzung hier die von zwei Kollegen, die mit ihrer Kritik – die ich teile – eher einsam in der Merkel überaus gewogenen Medienlandschaft stehen: Julian Reichelt, Chefredakteur der Bild, schreibt: „Inmitten emotionaler Appelle zum Ernst der Lage blieb sie der Bevölkerung das Wichtigste schuldig: eine Erklärung, was SIE persönlich in ihrem Amt für die Menschen tun wird. Die Deutschen haben den Ernst der Lage erkannt. Seit Wochen akzeptieren sie jede noch so drastische Maßnahme der Regierung. Sie brauchen keine Appelle mehr, sie brauchen Antworten auf grundlegende Fragen, die nicht nur ihre Gesundheit, sondern auch ihr wirtschaftliches Überleben betreffen!“ Und weiter zählt Reichelt zahlreiche konkrete Themen auf, zu denen Merkel die Antwort schuldig blieb – etwa die wirtschaftliche Krise. Nachzulesen sind alle Punkte hier.
Peter Tiede, Chefreporter der Bild, schreibt auf facebook: „Die Ansprache der Kanzlerin? Okay? Nicht gut genug. Erstens darf der Ton klarer, die Ansprache knapper und härter sein, wenn denn die Lage so ist, wie sie sagt. Zweitens: Bei allem Verständnis für die Maßnahmen, darf doch die Einschränkung elementarer Grund- und Bürgerrechte etwas klarer angesprochen und bedauert werden. Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit etc. sind ja keine liebgewonnen Gewohnheiten. Das sind Rechte der Bürger. Da darf die Kanzlerin dann doch schon deutlicher drauf eingehen. Das ist erklärungsbedürftig und von einer Regierungschefin auch ausdrücklich zu bedauern. Das reicht nicht, was sie da macht.“
Umso erstaunlicher, wie völlig überschwänglich die Lobeshymnen für die Regierungschefin ausfielen. Teilweise hat die Begeisterung hysterische Züge, wie bei twitter-Nutzer „Wehrwolf“. Der schrieb: „Ich bitte alle, die mit Merkels Ansprache heute überhaupt nichts anfangen konnten, mich zu entfolgen. Ich fand die nämlich richtig gut, und wenn wir da so krass auseinander liegen, würde uns der weitere Austausch sicher nicht gefallen.“
Was für ein totalitäres Denken – das an finstere Zeiten in der Geschichte erinnert. Könnte man nun die Meinung von „Wehrwolf“, dem auf twitter nur 679 andere folgen, als nicht relevant abtun, so macht der Begeisterungssturm auch vor gestandenen, bekannten Journalisten nicht halt.
Christian Lindner, von 2004 bis 2017 Chefredakteur der „Rhein-Zeitung“ und dann bis 2019 stellvertretender Chefredakteur der Bild am Sonntag, schrieb auf twitter: „Angela Merkel ist in dieser Lage ein Glück für unser Land.“ Nordkorea lässt grüßen.
Florian Reis, Sportjournalist bei dpa, dem wichtigsten Leitmedium in Deutschland, schreibt in dem sozialen Netzwerk: „Diese Ansprache von Angela #Merkel wird in die deutsche Fernsehgeschichte eingehen! Ich hatte zwischendurch echt Gänsehaut. Wer jetzt nichts verstanden hat, dem kann man wirklich nicht mehr helfen. Um es mit den berühmten Worten zu sagen: Wir schaffen das!“
Die Netzaktivistin und Bloggerin Katharina Nocun schildert ihren 38.000 Followern begeistert: „„Abstand ist Ausdruck von Fürsorge“, sagt Angela Merkel. Wunderbar auf den Punkt gebracht!“ Und: „Angela Merkel dankt in ihrer Ansprache den Mitarbeitern von Supermärkten, da diese ,den Laden am Laufen halten.´ Danke dafür!“
Ex-Fußballer Benedikt Hoewedes schreibt in seiner Kolumne auf t-online: „Die Populisten verlieren dieser Tage an Wert. Und es zeigt sich, in was für einem tollen Land wir Deutschen Zuhause sind. Wir können uns glücklich schätzen, eine solche Regierung zu haben. Sie handeln besonnen und intelligent, zudem haben wir eines der besten Gesundheitssysteme der Welt.“
Der auch für die öffentlich-rechtlichen Sender tätige Autor und Comedian Bastian Bielendorfer schreibt für seine 13.000 Follower: „Ich glaube echt es wird noch der Tag kommen, an dem wir dankbar sein werden jemand so klugen, ruhigen und besonnenen wie Angela Merkel an der Spitze dieses Landes zu haben und keinen gestörten Vollidioten wie Trump.“
Konstantin v. Notz, Bundestagsabgeordneter der Grünen, und damit eigentlich Opposition, schreibt einen Appell, der an ähnliche erinnert, als die Deutschen in den Krieg zogen – und zwar konkret an den legendären Ausspruch „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche!“ von Wilhelm II 1914: „Man kann in dieser Krise Corvid19de einfach nur froh sein eine Kanzlerin wie Angela Merkel zu haben. Und in den kommenden Monaten sollte kein Parteibuch, sondern nur politische Ernsthaftigkeit, demokratische Verantwortung und gesellschaftliche Solidarität eine Rolle spielen.“ 3519 twitter-Nutzer adelten diesen faktischen Appell zum Ausschalten des politischen Wettbewerbs mit einem „Like“.
In großer Menge sind auch Stimmen wie diese zu hören: „Ich bin so froh, dass Angela Merkel dieses Land regiert und nicht Merz oder ein Abziehbild von Trump oder Johnson“.
Und schon vor der Ansprache war der Lobesreigen überschwänglich – wie etwa hier bei dem PR-Mann Sachar Klein: „Ich finde Corona auch Kacke, aber ich habe unendlich viel Vertrauen in Merkel und ihr Kabinett, dass sie die richtigen Entscheidungen treffen werden. Zum Glück regiert noch die Bundeskanzlerin.“ Dafür gab es nicht nur 2500 Likes – wer weiß, vielleicht winken auch neue Aufträge für die Agentur von Klein von staatsnahen Betrieben. Auf deren Seite ist er auf einem Foto neben der Kanzlerin zu sehen.
Im Tagesspiegel schreibt Ex-Spiegel-Chefredakteur Klaus Brinkbäumer ganz im vorherrschenden Narrativ so vieler Medien: „Merkels Stärke, Trumps Bankrott: Covid-19 wirkt wie ein High-Speed-Vorgriff auf Erschütterungen, die uns die Erwärmung des Planeten erst noch bringen wird“. In einem weiteren Kommentar des Tagesspiegels – doppelt genäht lobhudelt besser – heißt es: „Merkel findet die richtigen Worte – Die Kanzlerin verbindet ruhige Information mit einem eindringlichen Appell. Sie baut auf Vernunft, Verstehen, Verständnis.“
Quer durch die Medien wird Merkels Ansprache gelobt oder positiv „geframt“ – etwa durch Eigenschaftswörter wie „eindringlich“ oder „einzigartig“. Fehler machen dabei auch vor allem für viele öffentlich-rechtlichen Medien in erster Linie immer die anderen: „Boris Johnson macht die Schulen dichtLange Zeit reagierte Großbritannien nur zögerlich auf die Ausbreitung der Coronavirus“, heißt es etwa bei tagesschau.de.
Kritische Stimmen wie die des Journalisten Michael Leh gingen fast unter:
„Merkel in Rede heute: ´Für jemandem wie mich, für die Reise- und Bewegungsfreiheit ein schwer erkämpftes Recht waren, sind solche Einschränkungen …´ Nun, sie konnte vor dem Mauerfall zweimal im Westen herumreisen und kehrte in DDR zurück. Erkämpft? Sie war keine Bürgerrechtlerin.“
Ich hätte mir auch Fragen gewünscht wie die, wie es zusammenpasst, dass einerseits etwa Restaurants und Café offen bleiben sollen, andererseits aber die Kanzlerin eindringlich appelliert, diese nicht zu nutzen. Das ist ein Widerspruch in sich, steht aber ganz für Merkels Politik-Stil, es allen recht zu machen..
Wenn schon solche Fragen niemand stellt, sind Bemerkungen wie diese des Welt-Journalisten Daniel Eckert auf twitter fast schon Ketzerei: „Schon jetzt hat Europa durch Corona mehr Todesfälle zu beklagen als China, obwohl dort das Virus zuerst identifiziert wurde und obwohl wir einige Wochen mehr Zeit hatten, uns vorzubereiten und aus den Erfahrungen der Asiaten zu lernen. Frustrierend.“ Dafür gab es ganze 185 Likes.
Wer solche Majestätsbeleidigung wagt, muss sich warm anziehen in diesen Tagen. So schreibt etwa der Journalist Peter Breuer seinen 35.000 Followern:
„Wenn die Männer, die unter dem Hashtag Merkel ihren Unflat in die Welt rotzen, ein echtes Profilfoto haben, kann man sich leider oft vorstellen, wie sie mit 14 auf dem Spielplatz rauchend auf einen 5-jährigen gewartet haben, um ihm seine Süßigkeiten wegzunehmen.“ Kritik an der Regierungschefin – eine zwingende Notwendigkeit in jeder Demokratie – als Unflat, also Exkremente. Der demokratische Lack ist bei manchen auch Jahrzehnte nach den Diktaturen noch sehr dünn – und dies wird dramatisch deutlich in diesen Tagen der Krise.
Weil auch ich mich nicht in die Massenbegeisterung einreihte, musste ich mir in den Kommentaren auch Böses anhören: „Wie unendlich frustrierend muss es für die Merkelhasser (die natürlich früher alle selbst mal AM gewählt haben) sein in diesem Land zu leben“.
Wenn Kritiker der Regierung als Hasser verleumdet werden, wenn sich Journalisten und Oppositionspolitiker überschlagen vor lauter Lob der Regierung, die zu kritisieren und kontrollieren ihre Aufgabe wäre, ist das ein untrüglicher Beleg, dass die Demokratie im Argen liegt. Mich hat nie jemand Kohl- oder Schröder-Hasser genannt, obwohl ich die immer heftig kritisierte. Ohne Kritik an der Regierung keine Demokratie. Das haben viele vergessen in den 15 Jahren, die Angela Merkel an der Macht ist und Politik und große Teile der Medien auf ihre Linie gebracht hat. Wie verheerend das ist, wurde jetzt schon offensichtlich: Kritiker, die den langen Schlaf der Regierung in Sachen Corona kritisierten, wurden wie inzwischen üblich diffamiert, angefeindet. Hätte man stattdessen auf sie gehört, und schneller reagiert, hätte das Menschenleben retten können.
Besonders fatal: Die Virus-Krise wird die demokratiefeindlichen Tendenzen in diesem Land noch massiv verstärken – zumindest kurzfristig (dazu in Kürze ein weiterer Beitrag hier). Mittelfristig könnte sie aber auch zu einer Katharsis werden und ein Umdenken einleiten.
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