Einer der großen Vorzüge der Demokratie ist es, dass sie sich nicht in das Privatleben der Bürger einmischt – so habe ich das Ende der 1980er Jahre in der Schule gelernt. Genau das unterscheide freie Gesellschaften von totalitären: Dort gebe die Politik den Menschen vor, wie sie sich im Privaten und im Alltag zu verhalten haben. Als negatives Beispiel dafür wurde uns damals die DDR genannt.
In 16 Jahren als Korrespondent in Moskau habe ich die Spätfolgen von Jahrzenten Totalitarismus hautnah kennengelernt. Das russische Wort „Sowjet“ – von dem „Sowjetunion“ abgeleitet ist – bedeutet Rat und Ratschlag zugleich. Kritische Russen nutzten das zu einem Wortwitz und klagten: „Wir sind das Land der Ratschläge, in dem jeder jedem immer zu allem einen Rat gibt und alles vorschreibt.“ Inzwischen hat sich das in Russland aber in weiten Teilen ins Gegenteil verkehrt: Die meisten Russen haben eine Aversion entwickelt gegen Einmischung von Politik ins Private und lassen sich diese nicht gefallen. Auch Wladimir Putin beachtet das: So sehr er machtpolitisch die Daumenschrauben anzieht, so wenig mischt er sich in die politischen Ansichten der Leute in seinem Land ein. Das System Putin ist weitgehend ideologiefrei.
Umso stärker sticht der Kontrast ins Auge, wenn eine Demokratie wie Deutschland genau den umgekehrten Weg geht. Immer mehr dringt das Politische, die Ideologie ins Private ein. Untrügliches Kennzeichen einer freien Gesellschaft ist, dass jeder überall seine politischen Ansichten äußern kann, ohne Angst vor weit reichenden Konsequenzen wie beruflicher oder sozialer Ausgrenzung zu haben, solange er nicht zu den extremen Rändern gehört. Das hat sich in der Bundesrepublik umgedreht: Nur noch in etwa jeder sechste Deutsche (17 bis 18 Prozent) fühlt sich laut einer Umfrage von Allensbach frei, im Internet bzw. in der Öffentlichkeit, die eigene Meinung zu äußern. Für eine Demokratie ist das ein verheerendes Resultat – man würde es eher in einem autoritären System erwarten. Unsere Meinungsfreiheit ist in Teilen nur noch Selbstbetrug (siehe hier). Absurd ist dabei, dass ausgerechnet diejenigen, deren Meinung sich mit dem quasiamtlichen linksgrünen Zeitgeist deckt, Klagen über die Verengung des Meinungskorridors abtun, ja lächerlich machen und diffamieren.
Untrügliche Kennzeichen von nicht freien Gesellschaften ist es, dass in der Arbeit, der Öffentlichkeit und im sozialen Umfeld anderes über Politik und Gesellschaft gesprochen wird als im Vier-Augen-Gespräch mit Vertrauten. Dass Eltern sich nicht trauen, vor ihren Kindern offen über heikle politische Themen zu sprechen. Dass Kinder in der Schule politisch indoktriniert werden. Dass ein Gesinnungsdruck besteht, eine Art Bekenntniszwang, etwa in Universitäten, an Arbeitsplätzen, im Kultur- und Showbetrieb. All das ist in Deutschland der Fall. Kindern wird in Schulen eingeimpft, wer AfD wähle, sei „Nazi“; Eltern werden in die Schule einbestellt, wenn ihr Kind dort äußerte, „Flüchtlinge“ kämen aus wirtschaftlichen Gründen – beides habe ich im eigenen Verwandtenkreis erlebt. Junge Eltern untersagen ihren eigenen Eltern den Umgang mit den Enkelkindern, weil sie für die falsche Partei Sympathien haben; Kinder gehen aus dem gleichen Grund öffentlich in Zeitungsartikeln auf Distanz zu ihren Eltern.
Wenn ich von all dem russischen Freunden und Bekannten erzähle, wollen die mir erst nicht glauben, und erst, wenn ich genügend Beispiele erzählt habe, sagen sie kopfschüttelnd: „Das ist ja wie in der Sowjetunion“. Auch wenn solche Gleichsetzungen nicht zutreffen – bei uns kommt noch niemand ins Gefängnis oder ins Grab für die falsche Meinung (wobei bei dem Tempo, in dem die Intoleranz zunimmt, auch das für die Zukunft wohl nicht mehr völlig auszuschließen ist): Es ist der Geist des Sozialismus, des Totalitarismus, der hinter all diesen Entwicklungen hervor schaut. Wer ihn am eigenen Leib erlebt hat wie viele Ostdeutsche, tut sich viel leichter darin, ihn zu erkennen, als Westdeutsche, die – wenn überhaupt – nur aus dritter Hand oder Berichten etwas darüber wissen.
Die fatale Politisierung und Ideologisierung aller Lebensbereiche schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran. Gerade entdeckte ich auf twitter einen unglaublichen Beitrag der neuen SPD-Vorsitzenden Saskia Esken – der Frau, die stets so sauer dreinblickt, dass man sich Sorgen um die Frische der Milch im Kühlschrank macht, und die sagte, „wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.“ Esken forderte die Bürger aus der SPD-Parteizentrale jetzt auf: „Wenn Ihr morgen Menschen seht oder sprecht, die vielleicht kein perfektes Deutsch sprechen, die hellere, dunklere oder grünere Haut haben: fragt sie nicht, wo sie herkämen. Redet nicht besonders laut, wenn sie euch nicht gleich verstehen. Wenn sie hier sind, gehören sie zu uns.“
Es sagt viel über die Änderung der politischen Stimmung, ja die Verschiebung der Maßstäbe in diesem Lande aus, dass so eine Aussage heute so gut wie keinerlei Verwunderung oder gar Protest mehr auslöst. Früher war der Grundkonsens in unserer Demokratie, dass Politiker auf die Stimmen der Bürger hören sollten – was oft mehr schlecht als recht, aber doch wenigstens in Ansätzen gelang. Zumindest war der Anspruch da, und niemand hätte sich getraut, dieses Prinzip offen ins Gegenteil umzudrehen – bzw. dafür abzustrafen. Heute will eine Parteichefin den Bürgern vorschreiben, wie sie sich im Alltag zu verhalten haben. Und das fällt kaum noch jemand auf, ja es wirkt kaum noch ungewöhnlich. Polit-Instruktion und Ideologie, von oben verordnet, bis hinein ins Private und Alltägliche, ist an die Stelle von Politik und Dialog getreten. Die „Volksvertreter“ geben Anweisungen an die Bürger, und nicht mehr umgekehrt – wie es das Grundprinzip der Demokratie ist. Sie wollen den Bürgern vorschreiben, welche Ängste sie haben dürfen und welche nicht, was sie als Bereicherung zu empfinden haben und was nicht, worüber sie sich freuen müssen, welche Verkehrsmittel sie benutzen und welche Produkte sie nutzen dürfen und welche nicht.
Das System der „Volksherrschaft“ wird so kontinuierlich auf den Kopf gestellt, unser Land wird immer undemokratischer, die Volksvertreter zum Erzieher und Vormund. Viele Bürger verdrängen das. Viele merken es, doch nur wenige trauen sich, offen dagegen anzureden oder anzuschreiben. Die Demokratie stirbt langsam. Dass sie fehlt, merkt man in der Regel erst, wenn sie nicht mehr da ist – das hat sie mit der Luft zum Atmen gemeinsam. Ich persönliche finde die Luft bereits sehr, sehr dünn.
Bild: WIX