Kleiner Grenzkrieg: Corona-Posse in den Alpen

Erinnern Sie sich noch an die Zeit, die heute wie aus einem anderen Jahrhundert wirkt, und doch erst zwei Monate zurück liegt? Bis März galt für Angela Merkel und ihre Getreuen die Mantra, dass Grenzen nicht (mehr) zu sichern sind. Dies war einer der Gründe für die tiefe Spaltung unseres Landes in der Migrationskrise, die Anhänger von Merkels damaliger Politik bis heute noch „Flüchtlingskrise“ nennen. Obwohl ein Großteil der „neu Dazugekommenen“ eben keine Flüchtlinge waren, sondern Migranten.

Dann im März der Salto rückwärts binnen Tagen. Noch am 11. März sagte die Kanzlerin: „Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv. (…) Wir in Deutschland sind jedenfalls der Meinung, dass Grenzschließungen keine adäquate Antwort auf die Herausforderung sind.“ Noch am 12.3.2020 titelte tagesschau.de mit einem Bild der Merkel-Vertrauten von der Leyen: „US-Einreisestopp empört Europäer“. Vier Tage später dann eine ganz andere Schlagzeile bei der gleichen öffentlich-rechtlichen Anstalt, erneut mit Bild von der Leyens: „Kommission schlägt EU-Einreisestopp vor.“ Noch einen Tag später: „Deutschland ordnet Einreisestopp an.“

Manche sagen den Deutschen, insbesondere ihren Politikern, einen Hang zum Extremen nach. Und so extrem es war, Grenzen für unkontrollierbar zu halten, so extrem wurden sie nun plötzlich kontrolliert. Selbst innerdeutsche Grenzen machten die Politiker plötzlich zu einem unüberwindbaren Hindernis (siehe meinen Bericht „Deutsche in Deutschland ausgewiesen“).

Züge eines Irrenhauses nahm die Grenzschließung in einem Gebiet an, das kaum jemand in Deutschland im Fokus hat (zu Unrecht, denn was dort geschieht, ist haarsträubend): dem Kleinwalsertal. Ich kenne es seit meiner Kindheit von diversen Urlauben: Es ist eine österreichische (Fast-)Enklave in Deutschland, und durch die Berge völlig von dem Land abgeschnitten, dessen Teil es politisch ist. Die einzige Verbindung zur Außenwelt für die 5034 Einwohner ist eine Straße in die Nachbargemeinde Oberstorf im bayerischen Allgäu.

Das ganze Alltagsleben des Kleinwalsertals ist auf Deutschland ausgerichtet. Dort wurde schon mit D-Mark statt mit Schilling bezahlt, als noch niemand dachte, Österreich könne einmal Mitglied der EU werden. Selbst die Steuern an den österreichischen Fiskus mussten die Walsertaler in D-Mark bezahlen. Man konnte sogar beim Skifahren problemlos die Grenze überfahren. Sie existierte faktisch nur auf dem Papier. Ich kann mich nicht erinnern, jemals Beamte an der Grenze gesehen zu haben – nur ein Schild an der Straße erinnerte an den Grenzübertritt. In den frühen 1990er Jahren bin ich manchmal mit Gästen aus der früheren Sowjetunion ins Kleinwalsertal gefahren: Weil es erstens wunderschön ist und zweitens die Gäste so Österreich besuchen konnten, ohne ein extra Visum zu beantragen, das damals noch erforderlich war. Das Kleinwalsertal war sozusagen ein Schengen-Vorläufer im Mini-Format.

Dafür hatten die Walsertaler das gesamte 19. Jahrhundert gekämpft. Genauer gesagt für eine Sonderwirtschaftszone. 1891 war es soweit. Die Gemeinde Mittelberg erhielt den lange ersehnten Status eines Zollausschlussgebiets. Dadurch wurde der freie Warenverkehr mit Deutschland möglich. Und von da an florierte das Tal – später auch wegen des Bankwesens, weil viele Deutsche dort ihr Geld ohne Grenzkontrollen von den Augen des Fiskus fernhalten konnten. Selbst im Nationalsozialismus gab es Sonderregeln für das Tal: Deutsche Urlauber wurden von der 1933 gegen Österreich eingeführten 1000-Mark-Sperre ausgenommen, einer Gebühr, die Deutsche sonst für die Ausreise in das Nachbarland bezahlen mussten. Nach dem „Anschluss“ Österreichs 1938 wurden die Walser dem Gau Schwaben angeschlossen und gehörten zum Landkreis Sonthofen.

Und dann das: Nach 130 Jahren haben die Corona-Maßnahmen das Kleinwalsertal, das sogar eine deutsche Postleitzahl hat, plötzlich zu einer Art feindlichem Ausland gemacht (und genauso eine weitere österreichische Gemeinde in der Region, Jungholz, mit 294 Einwohnern, das im Gegensatz zum Kleinwalsertal sogar ganz von deutschem Territorium umschlossen und damit nicht nur technisch, sondern auch im strengen Wortsinn eine Enklave ist). Deutschland machte die Grenze dicht, die 5034 Einwohner waren mit einem Mal faktisch eingeschlossen und isoliert. Die üblichen Einkaufsfahrten ins benachbarte Allgäu wurden zum Ding der Unmöglichkeit. Was besonders verrückt wirkt, wenn man bedenkt, dass in dem Tal bisher nur ein einziger Corona-Fall aktenkundig ist.

Die einzige Chance für die Walsertaler, ihr enges Tal zu verlassen und in ihre gewohnte Nachbarschaft in Deutschland jenseits der Grenze zu kommen, war eine Sondergenehmigung. Oder theoretisch das Beantragen von Asyl: Denn laut Innenministerium dürfen Asylbewerber im Unterschied zu den seit jeher ganz auf Deutschland ausgerichteten Bewohnern der österreichischen Enklave an der Grenze nicht abgewiesen werden.

Die Kleinwalstertaler versuchten alles. Sie starteten sogar eine Petition für die Grenzöffnung, schrieben an Innenminister Horst Seehofer. „Die letzten Wochen seien äußerst belastend gewesen, so der Bürgermeister von Mittelberg, Andreas Haid“, wie der ORF berichtet. In der drittgrößte Tourismusdestination Österreichs stand faktisch alles still. Die Causa wurde sogar Chefsache, es gab ein Gespräch der Minister. „Wir stehen in intensivem Kontakt mit den Ministerien bei uns in Wien aber gleichzeitig auch mit den Ministerien auf deutscher Seite bis hin zur österreichischen Botschaft in Berlin, wo wir gerade auf diese Sondersituation des Kleinwalsertals hinweisen“, berichtete Christian Gantner, Landesrat Voralbergs, also Landes-Innenminister.

Seit Ende April begannen stufenweise Lockerungen. Die 5034 Bewohner des Tals „konnten nur in die deutsche Nachbarregion fahren, um die notwendigsten Besorgungen zu erledigen. Zuletzt waren wieder Einkäufe, Besuche von Arztpraxen oder Fachwerkstätten erlaubt“, schreibt der Bayerische Rundfunk. Eine Rückkehr zur Normalität gibt es aber noch nicht, trotz diverser politischer Anläufe. Am kommenden Wochenende werden die Grenzen insoweit geöffnet, dass die Kontrollen nur noch sporadisch stattfinden. Allerdings muss nach wie vor ein triftiger Grund für die Einreise nach Deutschland vorliegen.

Gestern besuchte überraschend gar Österreichs Bundeskanzler Kurz das Kleinwalsertal (übrigens ohne Mundschutz, trotz eines Menschenauflaufes, weshalb ein Abgeordneter der liberalen Partei NEOS ankündigte, Anzeige gegen ihn zu erstatten). Mit dem Argument des Gesundheitsschutzes würden sich Einreisebeschränkungen nicht länger rechtfertigen lassen, mahnte Voralbergs Landeshauptmann Markus Wallner im Beisein des Regierungschefs mit Blick auf die aktuellen Infiziertenzahlen. Bürgermeister Haid sagte: „Für das Kleinwalsertal und die hier lebenden Menschen ist diese Grenzöffnung überlebensnotwendig“.

Die Geschichte des Kleinwalsertals mit seinen 5034 Einwohnern und von Jungholz mit 294 ist eine Corona-Posse wie aus dem Irrenhaus: Sie zeigt, dass Regeln, die zuvor im Großen für völlig hinfällig erklärt wurden, jetzt im Kleinen bis zum Exzess und bis ins Absurde angewandt werden. Bürokraten, Minister und Kanzler sind jetzt damit beschäftigt, eine Rückkehr zur Normalität für 5328 Menschen zu schaffen, die ohne jede Not und ohne jeden Sinn aus dieser Normalität heraus gerissen wurden. Als ob all die Beamten und Politiker in diesen Zeiten der Krise nichts anderes zu tun hätten. Aus dem kleinen Grenzverkehr wurde ein kleiner Grenzkrieg. Die Causa Kleinwalsertal ist ein drastisches Beispiel für Behörden-Wahnsinn in Zeiten von Corona.


Bild: Christoph Lingg via Wikicommons, Lizenz CC BY 2.5

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