Auf das Kleingedruckte kommt es an. Das lernte man früher für Vertragsabschlüsse. Inzwischen muss es auch für die Medien gelten. Wer in der Nacht auf Dienstag auf die Seite von Focus Online ging, fand dort weit oben in dicken Lettern folgende Überschrift: „News zur Pandemie: Mehr als 1200 Neuinfektionen in Deutschland – WHO warnt bereits vor nächster Pandemie“. Aus purer Neugierde tat ich das, was die wenigsten machen: Ich ging auf die Seite des Robert-Koch-Instituts und öffnete dort den „Täglichen Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019„. Und ich traute meinen Augen kaum. Denn die 1200 „Neuinfektionen“ sind dort nicht zu finden. Wobei schon der Begriff irreführend ist. Richtig wäre „positiv Getestete“. Auf dem offiziellen Papier prangt nicht die Zahl 1200 wie bei Focus Online, sondern „+ 927*“. Der Stern steht, wie darunter erklärt wird, für die Änderung gegenüber dem Vortag.
Die Focus-Online-Überschrift vermittelt Alarmstimmung. Der Kommentar im RKI-Bericht ganz oben auf Seite eins tut das Gegenteil: „Zusammenfassung der aktuellen Lage: Nach einem starken Anstieg zwischen der 29. und 34. Kalenderwoche hat sich die COVID-19- Inzidenz der letzten 7 Tage ab der 35. Kalenderwoche tendenziell stabilisiert. Auch wenn die täglich gemeldeten Fallzahlen aktuell nicht stark zunehmen, muss die Lage weiterhin sorgfältig beobachtet werden.“ Die journalistisch saubere Nachricht wäre also: „Tendenzielle Stabilisierung an der Corona-Front“. Und weiter könnte man etwa aus dem Bericht des RKI übernehmen: Nur ein neuer Todesfall gestern.
Stattdessen Zahlenzauber. Steht in der „Focus Online“-Überschrift noch „1200 Neuinfektionen in Deutschland“, so heißt es im Kleingedruckten drunter: „Am Sonntag wurden in Deutschland über 700 Neuinfektionen gemeldet, der R-Wert ist den vierten Tag in Folge gestiegen.“ Woher bitte kommt die Zahl 700? Und worauf beziehen sich die 1200 Neuinfektionen? Auf das ganze Wochenende? Die Woche? Die Länge eines Marathonlaufs? Weiter heißt es in dem Text: „Neun neue Todesfälle sind im Vergleich zum Vortag hinzugekommen“. Laut RKI aber nur einer. Wo kommen die acht Corona-Todesfälle her, von denen das RKI nichts weiß? Während der R-Wert im Vorspann noch „den vierten Tag in Folge gestiegen“ ist, steht ein paar Absätze weiter das Gegenteil: „Der R-Wert blieb nach vier Tagen in Folge, an denen er angestiegen war, zum ersten Mal wieder gleich bei 1,18, damit aber weiter über der kritischen Grenze von 1.“
Ungenauigkeiten und Fehler kommen überall vor. Leider auch zur Genüge auf dieser Seite. Aber merkwürdig, wenn die Fehler fast immer in eine Richtung gehen: Alarmstimmung. Ein Blick in den RKI-Tagesbericht zeigt, wie man die Zahlen in jede beliebige Richtung drehen kann. Einfach nur die Zahl der neu positiv Getesteten bringen, am besten noch als „Neuinfektionen“, ohne sie in Beziehung zur Gesamtzahl der Tests zu setzen – und die Alarmstimmung steigt. Genauso gut hätte man der Zahl der neu positiv Getesteten einen anderen Wert gegenüber stellen können: den der Genesenen. Dann hätte die Schlagzeile lauten können: 273 Corona-Kranke weniger als am Vortrag. Genauso ist es mit dem R-Wert. Je höher der über 1 ist, umso schlechter. Focus Online nimmt den 4-Tages-Wert, ohne diesen aber als solchen zu benennen. Der liegt bei 1,18. Warum nicht den 7-Tages-Wert, der bei 1,04 liegt und damit entspannter wirkt? Der 4-Tages-Wert ist für kurzfristigere Entwicklungen aussagekräftig. Aber sollte man ihn nicht wenigstens korrekt als solchen bezeichnen?
Auch die „Warnung der WHO“ vor der „nächsten Pandemie“ aus der Überschrift entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als halbseiden. Im Text unten heißt es dazu: „Während die Welt derzeit gegen das Coronavirus kämpft, tut sie nach Ansicht eines internationalen Expertengremiums zu wenig, um sich auf die nächste Pandemie vorzubereiten. Die nächste Pandemie werde „auf jeden Fall“ kommen und womöglich noch gefährlicher sein, heißt es in dem am Montag veröffentlichten Bericht des Global Preparedness Monitoring Board (GPMB) – einem von Weltgesundheitsorganisation (WHO) und Weltbank ins Leben gerufenen internationalen Expertengremium. Das mag alles zutreffen. Aber so, wie es in der Überschrift steht, erweckt es den Eindruck, eine neue Pandemie stünde unmittelbar bevor. Dass die nächste Pandemie auf jeden Fall kommt, ist aber so aussagekräftig, wie dass auf jeden Fall das nächste Unwetter kommen wird. Und dass es „womöglich noch gefährlicher“ sein wird als die vorherigen. Womöglich aber auch ungefährlicher.
Auch der große Aufmacher auf der Focus-Online-Seite ist Stimmungsmache bzw. Leser-Erziehung: „Garmischer Superspreaderin zeigt, was die Hauptgefahr der Corona-Pandemie ist.“ Ich dachte bislang, die Hauptgefahr sei eine Überfüllung der Krankenhäuser durch zu viele gleichzeitig behandlungsbedürftige Corona-Patienten. Mit der wurde der Lockdown in erster Linie begründet. Und von der sind wir erfreulicherweise weit entfernt.
Diese Analyse ließe sich auf viele andere Beiträge in unseren Medien übertragen. Im vorliegenden Fall sticht nur die Ungenauigkeit und Tendenziösität so ins Auge, dass ich mich noch mitten in der Nacht hingesetzt und alle anderen Themen habe liegen lassen, um sie zu auseinander zu dividieren. Und nur der Vollständigkeit halber verweise ich darauf, dass der Berliner Chef der Burda Magazine, zu denen Focus gehört, Daniel Funke ist. Der Mann von Gesundheitsminister Jens Spahn. Bei dem man nicht ausschließen kann, dass er ein Interesse daran hat, dass sein harter Kurs nicht als Fehlalarm wahrgenommen wird.
Schon im Frühjahr war in einem internen Strategiepapier des Innenministeriums davon die Rede, Urängste zu wecken wie die vor dem Erstickens, um „die gewünschte Schockwirkung zu erzielen“ (siehe hier). Die massive Angstmache von großen Teilen der Politik und Medien zeigt Wirkung. Die man teilweise mit bloßem Auge sehen kann. Wenn Menschen bei Sonnenschein allein mit Mund- und Nasenschutz über die Straße laufen. Oder diesen tragen, wenn sie alleine im Auto sitzen. Wenn Menschen ohne den Schutz massiv attackiert werden.
Dass die Ängste überzogen sind, zeigen aber nicht nur solche subjektiven Beobachtungen. Dies belegt auch etwa eine Studie von KEKST CNC, einem führenden internationalen Beratungsunternehmen. Sie zeigt, dass die Menschen glauben, es habe viel mehr Infizierte und Todesfälle gegeben, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. So glaubten etwa die Deutschen im Juli, dass elf Prozent der Menschen eine Infektion haben oder hatten: 46 Mal so viele, wie in Wirklichkeit. Noch größer das Missverhältnis bei den Todesfällen: Drei Prozent der Bevölkerung seien am Corona-Virus gestorben, so die Annahme. Das sind 300 Mal so viele, wie in Wirklichkeit – zu der gehört auch, dass Bestatter in Deutschland Kurzarbeit anmelden mussten (siehe hier).
Diese Zahlen belegen vor allem eines: Dass die Medien mit ihrer Aufgabe, aufzuklären, offenbar versagen. Sie legen den Verdacht nahe, dass stattdessen Ängste geschürt werden, die der realen Gefahr nicht angemessen sind.
PS: Noch ein Beispiel dafür, wie leicht man mit Zahlen manipulieren kann. Nimmt man etwa die Letalitätsrate bei Covid-19, also die Fallsterblichkeit, so ist diese in Deutschland noch höher als in den USA, wie etwa diese Graphik von Statista zeigt:
Nimmt man dagegen die Gesamtzahl der Todesfälle, stehen die USA am schlechtesten da (was aber nur daran liegt, dass sie die meisten Einwohner hat), wie auf dieser Statista-Graphik zu sehen ist:
Wirklich aussagekräftig ist nur die Statistik, in der die Zahl der Todesfälle auf eine Million Einwohner bezogen wird. Und anders, als man aus vielen Medien den Eindruck bekommt, ist hier eben nicht die USA das am schlimmsten betroffene Land, wie hier bei Statista:
Bild: ipopba/istockText: br