ARD: Gebührenzahler als „Wirrköpfe und Spinner“

Als der Psychiater Anatoli Korjagin 1981 in der Fachzeitschrift The Lancet unter dem Titel „Patienten gegen ihren eigenen Willen“ eine Anklage gegen den Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion veröffentlichte, wurde er eingesperrt und selbst mit antipsychotischen Mitteln zwangsmedikamentiert.

Korjagins Verbrechen: Er hatte, auch aufgrund eigener Erfahrungen in seiner Arbeit als Psychiater, eine der schrecklichsten „Traditionen“ im Kommunismus dokumentiert: Dass die Machthaber systematisch Andersdenkende und Dissidenten für psychisch krank erklärten. Dies führte so weit, dass Kritiker des Regimes auf Anweisung von oben von willfährigen Psychiatern in die Psychiatrie zwangseingewiesen wurden. Sie wurden damit aus der Gesellschaft ausgesondert, aller Rechte beraubt und diskreditiert. In den Anstalten wurden die vermeintlichen „Irren“ ruhig gestellt, teilweise mit Medikamenten, teilweise mit körperlichen Maßnahmen. Die „Pathologisierung“ von Andersdenkenden, also dass man sie für psychisch krank oder schlicht verrückt erklärte, entsprang der Haltung, so genanntes „konterrevolutionäres Denken“ ernsthaft als psychische Störungen wahrzunehmen. Und es deshalb auch für behandlungsbedürftig zu halten. Auch dann, wenn der vermeintlich „Kranke“ sich dagegen wehrte, was meistens der Fall war.

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Zu den wichtigsten Lehren aus der Geschichte muss es deshalb gehören, Menschen mit abweichenden und unbequemen Meinungen nicht für psychisch krank oder verrückt zu erklären. Umso bedenklicher ist es, dass dies in der Bundesrepublik 30 Jahre nach dem Ende der kommunistischen Diktatur wieder immer öfter geschieht.

Ich habe damit auch selbst Erfahrungen. Wenn auch in sehr milder Form. Wegen meiner Kritik an Angela Merkel warf mir deren früherer Sprecher Georg Streiter öffentlich auf facebook vor, nicht das nötige Vertrauen in die Regierung zu haben. Das ist ein erstaunlicher Vorwurf an einen Journalisten. Vor allem von jemandem, der kurz zuvor noch in bzw. bei der Regierung saß. Ich bin der Ansicht, wir Journalisten dürfen eben kein Vertrauen in die Regierung haben – denn wir sind deren Kontrolleure. Offenbar gilt so eine Einstellung bei Merkel und ihren Mitstreitern wie Streiter als altmodisch. Streiter attackierte meine Kritik mit den Worten: „Auch als Journalist hat man Verantwortung“. Ja, aber welche? Merkel nicht zu kritisieren und ihr zu vertrauen? Merkels Ex-Sprecher warnte mich noch, „welche Funktion die Verbreitung von Zweifel und Misstrauen auch haben kann“ – nämlich Propaganda. Man muss sich diese Warnung auf der Zunge zergehen lassen.

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Streiter versuchte sodann, meinen Mangel an Vertrauen in die Kanzlerin küchenpsychologisch aus meiner Biographie zu erklären: „Wer lange in Staaten wie Russland gelebt hat, neigt offenbar dazu, nichts und niemandem auch nur ein bisschen zu vertrauen. Dieses Misstrauen sollte man dann aber nicht auf alle anderen übertragen.“ Was das da zwischen den Zeilen mitschwingt, ist der Vorwurf paranoid zu sein. Also der Versuch, den Kritiker für verrückt zu erklären – wenn auch in diesem Fall dezent und durch die Blume.

Die Attacken von Streiter erlauben exklusive Einblicke, wie im engen Umfeld von Merkel und bei deren Presseleuten offenbar über Journalisten und Journalismus gedacht wird, und was für ein Umgang mit Journalisten dort herrscht: Die haben Vertrauen zu zeigen und Zweifel und Misstrauen zu unterlassen. Das erinnert mehr an unfreie Systeme als an eine pluralistische Demokratie.

Und diese „Haltung“ haben leider sehr viele übernommen in Deutschland. Selbst Kollegen bezeichnen meine kritische Einstellung zur Regierung inzwischen öffentlich als „krankhaft“. Deshalb habe ich eine Allergie entwickelt gegen Pathologisierung. Und jetzt das: Ausgerechnet Rainald Becker, der Chefredakteur der ARD, die wir alle mit unseren Gebühren finanzieren müssen, erklärte alle jene, die sich nach Zuständen wie vor Corona zurück sehnen, für verrückt. Dabei ist so eine Sehnsucht doch die normalste Sache der Welt. Sein Kommentar vor Millionen Zuschauern ist so haarsträubend, das ich ihn hier wörtlich wiedergebe (anzusehen ist er hier):

mvg„Der Status quo ante, also zurück zur alten Normalität, ist vielen Wirrköpfen, die sich im Netz (…) tummeln, nachgerade ein Herzensanliegen. All diesen Spinnern und Corona-Kritiker sei gesagt: Es wird keine Normalität mehr geben wie vorher. Madonna, Robert de Niro und rund 200 andere Künstler und Wissenschaftler fordern zurecht, nach der Corona-Krise Lebensstil, Konsumverhalten und Wirtschaft grundlegend zu ändern. Diese weltweite Pandemie muss zu etwas Neuem führen.“

Das hat nichts mehr mit Demokratie und Pluralismus zu tun. Ausgerechnet in dem Sender, der ständig Kritik an der Regierung als „Hetze“ und „Hass“ diskreditiert, wird echte Hetze und Haß gegen Andersdenkende verbreitet. Beckers Autritt erinnert an sowjetisches Fernsehen, oder an chinesisches zu Zeiten der Kulturrevolution. Es klingt geradezu euphorisch, wie Rainald Becker im Stile eines kommunistischen Eiferers fordert, es dürfe „keine Normalität mehr geben wie zuvor“. Wie er eine grundlegende Veränderung unseres Lebensstils und Konsumverhaltens fordert.

Ein Journalisten-Kollege rief mich empört an, nachdem er den Becker-Kommentar gesehen hatte. „Das ist kein Journalismus mehr, das ist Agitation“, sagte er: „Ein Kommentar, in dem jeder Zweifel an der Staats- und Parteiführung herabgewürdigt wird, mit dem Tenor, Kritikern müsse man das Handwerk legen, das ist der Stil von Karl-Eduard von Schnitzler.“ Der Macher des „Schwarzen Kanals“ im DDR-Fernsehen galt als Inbegriff linker Propaganda.

Der Becker-Kommentar zeigt: Die Öffentlich-Rechtlichen sind mit ihrer Ideologie und Belehrung dreister denn je. Und meilenweit entfernt von ihrem Informationsauftrag und ihrer Pflicht zur Neutralität. Sie sind voller „Vertrauen in die Regierung“, wie das Merkels Ex-Sprecher Streiter einfordert, und weit entfernt von „Zweifel und Misstrauen“.

Früher habe ich es immer für eine Legende gehalten, wenn im Kollegenkreis erzählt wurde von Anrufen aus dem Kanzleramt bei den großen Medien, in denen die „richtige“ Linie vorgegeben wurde, etwa in der Migrationskrise 2015 oder jetzt bei Corona. Inzwischen kann ich mir das, leider, sehr gut vorstellen – auch aufgrund der persönlichen Erfahrungen wie mit Merkels Ex-Sprecher oder detaillierten Berichten von Kollegen. Selbst in Kommentaren werden denen schon mal Sätze gestrichen, die als Kritik an Merkel gelten könnten.

ARD-Chefredakteur Rainald Becker etwa ist schon früh dadurch aufgefallen, wie stramm er auf Linie ist. Der Medienkritiker Stefan Schulz etwa schrieb: „Der ARD-Chefredakteur Rainald Becker bejubelt das Regierungshandeln regelmäßig auf eine Weise, die sogar Regierungssprecher Steffen Seibert peinlich wäre.“

Im August 2019 schrieb Becker auf twitter: „Wer nach 30 Jahren Einheit Die Linke immer noch als „SED-Erben“ bezeichnet, hat nichts verstanden und gelernt.“

Nach der Einigung von SPD und Union im Streit um die Grundrente twitterte der ARD-Mann: „Danke @spdde @CDU @CSU“.

Im Mai 2019 zeigte Becker sich auf dem Bildschirm euphorisch über den Erfolg der Grünen bei den Wahlen des EU-Parlaments und meinte, vielleicht sei die Zeit reif für einen grünen Kanzler. Den europaweiten EU-kritischen Trend stellte er als Ausnahme dar und das deutsche Wahlergebnis als die Regel. Er erntete damit viel Spott, etwa die Frage eines twitter-Nutzers: „Kann ich meinen Rundfunkbeitrag als Parteispende steuerlich absetzen?“In einem funktionierenden demokratischen und öffentlich-rechtlichen System müsste Becker dafür, dass er unzählige Gebührenzahler für ihre verständlichen Sehnsüchte für verrückt erklärt, den Hut nehmen. Im System Merkel kann er auf weitere Karrieresprünge hoffen, und seine Anstalt auf weiteren Gebühren-Regen.


Bild: ARD/Screenshot

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