Es ist faszinierend und erschreckend zugleich, wie oft sich die Realität des Deutschlands im Jahre 2019 mit alten Witzen aus kommunistischen Zeiten beschreiben lässt. Heute musste ich beim Besuch im Berliner Zoo spontan an diesen hier denken: „Treffen der Warschauer-Pakt-Regierungschefs in Moskau. Alle finden auf ihren Stühlen einen Reißnagel. Der Tscheche wischt ihn weg, der Pole dreht ihn um und drückt ihn in den Stuhl, der Rumäne steckt ihn sich ein – und Erich Honecker setzt sich mitten drauf und denkt sich: ,die sowjetischen Genossen werden sich schon etwas dabei gedacht haben.´“
Warum ich heute vor dem Berliner Zoo an diesen Witz dachte? Weil eine riesige Warteschlange davor stand (es waren auch nur zwei Kassen geöffnet, wer kann schon an einem Brückentag in den Ferien mit einem Ansturm rechnen?). Die Schlange reichte fast bis zu dem großen Plakat, auf dem auf deutsch und englisch steht: „Keine Lust zu Warten? Einfach Warteschlange umgehen. Kaufen Sie ihre Eintrittskarte direkt an den Fahrkartenautomaten der BVG im U-Bahnhof.“ Der ist eine Minute zu Fuß entfernt. Ich blieb eine Weile stehen und wollte beobachten, ob jemand nach Ansicht des Plakats umdreht und zu den Automaten geht. Ich sah keinen einzigen.
Geschätzt neunzig Prozent der Wartenden müssen an dem Plakat vorbeigelaufen sein. Und sich danach brav in die Schlange gestellt haben. Dieses Phänomen erlebe ich seit Jahren in Berlin, und komme nie aus dem Staunen raus. In meinem Lieblings-Supermarkt gibt es sechs Selbstbedienungs-Kassen. Meistens wird nicht mal die Hälfte benutzt – während nebenan an den Kassen oft lange Schlangen stehen. Hat sich im Drogeriemarkt eine lange Reihe gebildet, weil nur eine Kasse besetzt ist, muckt niemand auf. Tut man es selbst, zieht man sich böse Blicke der Wartenden zu. Es scheinen sie weitaus weniger wütend zu machen, schlecht bedient zu werden, als wenn sich jemand dagegen wehrt und für Abhilfe sorgen will. Vielleicht, weil der sie damit auf den schlechten Service aufmerksam macht?
In Berlin scheint es eine ungewöhnliche Konzentration von Masochisten zu geben“, scherzt meine russisch-ukrainisch-jüdische Freundin Lena: „Warum lassen sich so viele Leute diese ganzen Zumutungen gefallen? Und klagen nicht mal darüber, sondern empören sich eher, wenn sich jemand beklagt? Ich kann das einfach nicht verstehen. Haben die Freude daran, schlecht behandelt zu werden? Wollen die ein Deutsch-Kalkutta? Und wehe, man sagt ihnen, was einem alles negativ auffällt! Da zieht man sich ihren großen Zorn zu! Oder wird gleich aufgefordert, wieder ,heim´ zu gehen! Von denen, die immer sagen, wie tolerant, offen und bunt sie sind!“
Ich auch nicht. Zumal sich die Liste der Zumutungen in Berlin schier endlos fortsetzen ließe:
– Ein Notruf (110), bei dem man schon mal neun Minuten in der Warteschleife hängen bleiben kann.
– Engpässe bei der Versorgung mit (Standard)Medikamenten, teilweise sind Hunderte nicht lieferbar in den Apotheken der Stadt und Brandenburgs.
– Gefängnisse, in denen schon mal innerhalb von sieben Tagen drei Fluchtversuche gelingen („Chaos-Knast).
– Ein Flughafen-Bau, bei dem völlig unklar ist, wann und ob er jemals fertig gebaut wird, während das Management für Klimaneutralität der Flughafen-Ruine kämpft.
– Ein grüner Baustadtrat, der Autofahrer schikanieren will, indem er das Fahren teurer, nerviger und langsamer machen möchte, und der für eine Millionensumme in die Fahrbahn „Begegnungszonen“ einbauen ließ (ich selbst habe kein Auto, aber halte das trotzdem für irre – ebenso wie das Schwadronieren von der Schaffung eines neuen Menschen durch den gleichen Politiker. Wir hatten das schon mehrmals und wissen, wohin es führen kann).
– Eine grüne Bezirksbürgermeisterin, die in einem Park Drogenhändler nicht ausgrenzen, sondern integrieren will (und sich gleichzeitig nachts nicht mehr auf die Straße traut).
– Überforderte Gerichte, wie in Brandenburg, wo ein 60-Kilo-Heroin-Schmuggler freikam, weil zeitnah kein Gerichtstermin frei war
– Erhebliche Investitionen in Unisex-Toiletten und die Frauen-Pissoirs, weil es nach Auffassung der Verantwortlichen ungerecht ist, wenn Pissoirs nur für Männer da sind.
–Grundschüler, die in der dritten Klasse mehrheitlich nicht einmal die Mindeststandards in Sachen Rechtschreibung erfüllen.
– Pläne für einen offenen Vollzug für Sicherheitsverwahrte. Also Täter, die für besonders gefährlich befunden wurden.
Nicht ersparen kann ich Ihnen die neueste Umfragen, nach denen eine Mehrheit der Berliner genau wieder die Parteien wählen würden, die für das Desaster verantwortlich sind. „Wäre die Wahl zum Abgeordnetenhaus an diesem Sonntag“, schreibt die Berliner Morgenpost heute, „kämen die Grünen nach der Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa auf 22 Prozent“. Die Linke (rechtsidentisch mit der SED, die diese Stadt mit einer Mauer trennen und auf Flüchtlinge schießen ließ), gewann zwei Punkte hinzu und käme jetzt auf 19 Prozent. Die SPD läge bei 15 Prozent (minus eins), die CDU unverändert bei 17 Prozent, die AfD ebenfalls ohne Veränderung gleich bei 11 Prozent. Rot-Rot-Grün könnte sich also mit 56 Prozent weiter auf einer stabilen Mehrheit ausruhen.
Warum? Wirklich Masochismus, wie meine Freundin Lena mit ihrem jüdischen Mutterwitz meint? Sozialismus-Nostalgie in Tateinheit mit grünem Gutbürgertum? Trift der böse Vorwurf der spätrömischen Dekadenz doch zu? Oder ist es der Länderfinanzausgleich – wie bei einem verzogenen Kind, das weiß, es kann machen was es will, die Eltern (bzw. hier Bayern und Co.) werden schon für den Schaden aufkommen. Ich bin ratlos. Wahrscheinlich sollte man die Frage nach dem „warum“ eher einem Psychologen stellen als einem Journalisten.
Bilder: Morgana Bartolomei/Unsplash, polaroidville/Unsplash, Boris Reitschuster (2).+