Gastbeitrag von Professor Felix Dirsch, katholischer Theologe und Politikwissenschaftler.
Hilfreiches Top-Buch des Jahres 2020? Die viel beachteten „Corona“-Rebellen Sucharit Bhakdi und Karina Reiss bringen mit „Corona-Fehlalarm“ einen Beitrag zur Versachlichung der Debatte auf den Markt
Vor fast zehn Jahren ist der Bestseller „Deutschland schafft sich ab“ von Thilo Sarrazin erschienen. Eine bekannte Buchrezensentin, die im Kanzleramt residiert, bezeichnete den Beitrag damals als „nicht hilfreich“. Unabhängig von dieser enorm absatzförderlichen Empfehlung sah sich der Autor einer medialen Treibjagd ausgesetzt. Spätestens nach den Ereignissen von 2015/16 musste er Schwächen einräumen, gerade im Hinblick auf die in seinem Werk angegebene Zahl von wahrscheinlich zukünftigen Migranten (gerade aus dem arabischen Raum). Seine Vorstellungskraft reichte 2010 kaum aus, die wahre Dimension zu ermessen, die sich erst einige Jahre später zeigte.
Der „Fall“ Sucharit Bhakdi, bekannt geworden als führender Kopf einer fachlich beeindruckenden Galerie von Gegnern der „Corona-Maßnahmen“, weist einige Parallelen auf. Auch hier formulierte ein ausgewiesener Experte Alternativen zur Regierungspolitik. Die für ein breiteres Publikum geschriebene Publikation „Corona-Fehlalarm“ wurde schon einige Zeit vor der Veröffentlichung im Internet beworben. Auf den Bestsellerlisten kletterte sie schnell nach oben, manchmal sogar an die erste Stelle. Dieser Umstand ist auch der Rezeption seiner Youtube-Videos und -Interviews zu verdanken. Als das Buch schließlich auf dem Markt war, konnte man gelegentlich vernehmen, bekannte Internetriesen würden die Auslieferung blockieren. Solche Versuche – falls es sie denn gab – sind heute schwerer denn je umzusetzen, kommt man an den Inhalt eines Werkes bekanntlich auch auf andere Weise heran, etwa über Ebooks.
Bhakdi gilt unter Kollegen bereits seit vielen Jahren als herausragender Fachmann insbesondere auf den Gebieten der Mikrobiologie und Epidemiologie. Er verfasste mehrere hundert Fachpublikationen. 12 000 Ärzte soll er nach eigener Auskunft ausgebildet haben. Das schützte ihn nicht davor, dass ihn subalterne Gestalten wegen seines regierungskritischen Kurses zum Teil in unflätiger Weise (auch in den sozialen Netzwerken) angegriffen haben. Gelegentlich behauptete man sogar, er habe als Emeritus die Fortschritte der Wissenschaft in seiner Disziplin nicht wahrgenommen oder gar offensichtlich gelogen.
Bhakdi und seine Frau Karina Reiss legen allgemeinverständlich dar, warum die Maßnahmen zur Eindämmung von SARS-CoV-2 unverhältnismäßig gewesen seien und das gilt ihnen zufolge nach wie vor. Anders als ihre Kritiker ihnen vorwerfen, haben sie Covid-19 und das diese Erkrankung verursachende Virus nicht verharmlost.
Beiden Verfassern geht es darum, die Pandemie richtig einzuordnen und Panikreaktionen, wie es sie vereinzelt sicher gegeben hat, als nicht gerechtfertigt herauszustellen. Aus diesem Grund gehen sie genauer auf die schon länger bekannte Corona-Familie und etliche Auswirkungen ein. Man wird kaum bestreiten können, dass sich einige Stellungnahmen Bhakdis im Frühjahr als angreifbar erwiesen haben, etwa seine Angaben über die Erkrankungsraten bei Infizierten. Insofern schadet auch bei dieser Publikation ein kritischer Blick nicht. Gleiches gilt für die Darlegungen dieses Autors zum Thema „Impfung“.
Die Autoren veröffentlichen ihre Anmerkungen zu einem relativ frühen Zeitpunkt. Sie wissen um die Schwierigkeiten einer solchen Darstellung. Die Datenerhebung ist problematisch, gerade in unterschiedlichen Ländern, die Deutung erst recht. Vieles ist noch im Fluss, besonders der absehbare Impfstoff ist im Hinblick auf mögliche Nebenwirkungen umstritten. Häufig liegen noch zu wenige Langzeiterkenntnisse vor.
Einfach und verständlich erklären die Autoren die verschiedenen Ebenen, die zu beachten sind: Infektion, Erkrankung, mögliche Beatmung, aber auch das heftig umstrittene Thema der Todesfälle „an“ Corona. Wichtig ist der Unterschied zwischen positiv Getesteten und Infizierten. Letztere Zahl ist erheblich höher, da eine hohe Dunkelziffer realistisch ist. Das Angenehme an der vorliegenden Arbeit ist, dass sie nicht dogmatisch argumentiert, sondern nur vorläufige Befunde abgibt, wie sie augenblicklich wahrscheinlich sind. So kommt das Autorenpaar unter Berücksichtigung vieler Faktoren zur Annahme, dass der Korridor der „echten“ Covid-19-Toten zwischen 0,1% und 0,4% liege. Gemeint sind Patienten, bei denen das Virus die entscheidende Todesursache darstellt.
Die Differenzierung, ob man „an“ einer Krankheit oder „mit“ ihr gestorben ist, ist in den deutschen ärztlichen Leitlinien festgelegt und keineswegs zu vernachlässigen, wie auch mitunter zu vernehmen ist. Dieses Resultat deckt sich im Großen und Ganzen mit dem Ergebnis der schon berühmten Heinsberg-Studie Hendrik Streecks. Auch der international renommierte US-Epidemiologe John Ioannidis kommt nach Auswertung einer Reihe von Studien zur Schlussfolgerung, dass eine Sterblichkeitsrate von 0,02-0,40 realistisch sein könnte. Alles unter dem Vorbehalt, dass weitere Studien diesen Trend bestätigen. Für Bhakdi und ähnlich argumentierende Kollegen spricht, dass die Kurve der effektiven Reproduktionszahl R für eine angenommene Generationszeit von vier Tagen bereits zwischen dem 16. und 23. März abgesunken ist und sich nunmehr um die Zahl eins einpendelte. Nur ein Indiz für die Überflüssigkeit des Lockdowns!
Auch Bhakdi teilt die verbreitete Meinung, dass „an“ SARS-CoV-2-Verstorbene mindestens eine, in der Regel mehrere Vorerkrankungen mitbringen. In der Praxis ist es natürlich nicht immer einfach, Todesfälle „an“ Corona von solchen „mit“ Corona und an den Folgen dieser Krankheit zu unterscheiden. Man mag einwenden, bei solchen Differenzierungen handle es sich um Marginalien. Im Hinblick auf menschliche Schicksale ist diese Einschätzung vielleicht richtig. Für eine adäquate Bewertung des angeblichen „Killer-Virus“ sind aber die entsprechenden Unterscheidungen nötig.
Die Autoren erkennen die Notwendigkeit einer Übelabwägung, die leider in vielen Pandemie-Debatten unterblieben ist. Bhakdi hat früh auf die schlimmen Folgen des Lockdowns verwiesen, die weltweit für eine nicht unbeträchtliche Zahl von Menschen den Tod zur Folge haben dürften: Zu erwähnen sind lediglich Einschränkungen der Kontakte vor allem Älterer, weniger Sport, der betrieben wird (erhöhtes Thrombose-Risiko!), weniger Vorsorgeuntersuchungen, die wahrgenommen werden, viele verschobene Operationen. Mehr Selbstmorde und Unfälle im Haushalt sind zu vermuten, wenngleich auch diesbezüglich keine belastbaren Zahlen vorliegen. Gesichert ist hingegen eine geringere Zahl von tödlich Verunglückten im Straßenverkehr. Weiter sind weniger Tote infolge von Gewaltverbrechen gemeldet worden. Nicht zuletzt sind auch hier menschliche Schicksale ein Bewertungsindikator: Viele konnten sich von ihren Lieben nicht verabschieden und starben mitunter gar ohne seelsorglichen Beistand.
Ob es eine Übersterblichkeit gibt, ist umstritten – wohl auch deshalb, weil die bundesweite Datenlage schwierig ist. Der Ökonom Walter Krämer, als Autor populärer Bücher zur deutschen Sprache bekannt geworden, hat Material vorgelegt, das sogar Untersterblichkeit für die ersten Monate dieses Jahres belegen soll. Ein wenig Humor in ernster Zeit? Man weiß es nicht. Ausgeschlossen ist ein solcher Trend mitnichten. Jedenfalls bleibt auf der Basis der jetzigen Erkenntnisse zu vermuten, dass die in der Saison 2017/18 festgehaltene Zahl der am Grippevirus Verstorbenen 2020 unterschritten wird. Auch das muss offengehalten werden. Umstritten ist darüber hinaus, welcher Zeitraum für die Bemessung der Übersterblichkeit relevant ist. Wenn man die Monate März und April hernimmt, kann man durchaus zu anderen Resultaten kommen, als wenn man das gesamte erste Halbjahr zur Referenzphase erklärt. Sicher ist aber, dass die Lage in Deutschland anders zu bewerten ist als in anderen Ländern. Die vor Monaten noch häufiger zu lesende Behauptung, Covid-19 sei bis zu zehnmal tödlicher als Influenza, dürfte sich nicht bestätigen.
Für den Laien ist es nicht einfach, selbst die wichtigen Aspekte der Debatte im Blick zu behalten. Bhakdi und Reiss liefern einen Beitrag dazu – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Sie haben damit nicht ihre erste populärwissenschaftliche Schrift vorgelegt. Vor einigen Jahren verfasste das Duo die Abhandlung „Schreckgespenst Infektionen“. Auch diese Lektüre ist nicht für ein fachspezifisch vorgebildetes Publikum geschrieben, sondern für alle Interessierten. Sie ist eine ideale Ergänzung zum neuesten Buch. Man kann sich ärgern über den mitunter verbiesterten Ton in der Corona-Debatte, der wahrscheinlich auch an Bhakdi nicht spurlos vorbeigegangen ist. Der dreijährige Sohn bietet für den 74-Jährigen wohl eine gute Gelegenheit zur Ablenkung.
Die Arbeit ist für Gegner und Anhänger zu empfehlen. Sie stellt einen Beitrag zur Versachlichung dar. Gerade für das Corona-Thema gilt der alte Popper’sche Grundsatz der Falsifizierung in besonderer Weise: Zentrale wissenschaftliche Aussagen müssen demnach vorläufig und hypothetisch sein. Dieser Grundsatz wird von den Autoren erfüllt. Die eingangs genannte Buchrezensentin kann also ihres Amtes walten. Bei negativer Bewertung ist eine Umsatzverdopplung zu erwarten. Darauf dürfen nicht nur die Autoren hoffen.
Sucharit Bhakdi/Karina Reiss: Corona Fehlalarm? Zahlen, Daten und Hintergründe. Zwischen Panikmache und Wissenschaft: welche Maßnahmen sind im Kampf gegen Virus und COVID-19 sinnvoll? Daten, Fakten, Hintergründe, Goldegg-Verlag, Berlin/Wien 2020, 160 Seiten.
PS: Hier die Reaktion des Verlages auf diese Buchbesprechung:
„Hier liegt keineswegs ein Akt der Zensur oder ein Boykott unseres Titels vor. Vielmehr kommt es auf Grund der hohen Nachfrage zeitweise zu Lieferengpässen, Nachdrucke müssen arrangiert werden und Lieferungen verzögern sich aufgrund der aktuellen Situation (Kurzarbeit, Kündigungen etc.).
Amazon hat sich dazu entschieden, keine E-Books zu dem Thema Covid19 zu veröffentlichen, da sehr viele Selfpublisher Unwahrheiten verbreiten. Leider hat auch unser Titel anfangs unter dieser Entscheidung gelitten. Nachdem wir aber Kontakt zu Amazon aufgenommen hatten und das Unternehmen sich davon überzeugen konnte, dass wir ein seriöser Sachbuchverlag sind, wurde unser E-Book in den Vertrieb aufgenommen. Es ist uns sehr wichtig, zu kommunizieren, dass hier logisch erklärbare Vorgänge am Werk sind und keine Verschwörung seitens der Regierung vorliegt.
Goldegg Verlag GmbH“
Hier das Suchergebnis bei „google news“ zum Buch – das das Schweigend er großen Medien dokumentiert:
Professor Dr. Felix Dirsch ist katholischer Theologe und Politikwissenschaftler. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von „Nation, Europa, Christenheit“ und „Rechtes Christentum„. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.
2012 erschien sein Buch „Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens““.
Bilder: Pixabay/Ekatrinа Quehl