Gastbeitrag von Professor Felix Dirsch
Die namhafte Akademie für politische Bildung in Tutzing ist malerisch gelegen. Sie vermittelt ihren Gästen einen schönen Ausblick über Teile des Starnberger Sees. Im Mitteilungsorgan „Akademie-Report“, das viermal im Jahr erscheint, verfasste die Direktorin Ursula Münch unlängst im Vorwort einen kurzen Überblick über die aktuelle politische Lage. Besonders dringlich erscheint ihr der Hinweis, dass die Corona-Krise die Wissenschaftsfeindlichkeit der Populisten entlarve. Dieser Anti-Intellektualismus diene dazu, um sich vom „Virus“-Management der „Altparteien“ abzugrenzen. Man möchte die Dame fragen, was denn die Opposition anderes tun solle; auch einzelne Linke (wie der Vize der Partei „Die Linke“ Andrej Hunko) haben nicht vergessen, dass die Linke einst auf eine grundsätzlich regierungskritische Schlagseite Wert legte. Hunko ist schnell auf Linie gebracht worden, potenzielle Nachahmer wurden eingeschüchtert. Von Oppositionsaktivitäten keine Spur. Pandemie-Regime befiehl, wir folgen! Dass dann Vertreter der entgegengesetzten politischen Richtung in den Protesten mitunter überrepräsentiert sind, liegt in der Logik eines derartigen Rückzuges.
Eine ausgewogene Darstellung der unterschiedlichen Positionen ist wohl für eine gut informierte Zeitgenossin zu viel verlangt. Aufgrund monatelanger Medienpräsenz mögen Regierungsmediziner wie die Herrn Christian Drosten und Lothar H. Wieler dem Publikum bekannter sein, die Liste der Corona-Rebellen unter den ausgewiesenen Fachleuten ist indessen länger. Von deren Argumenten liest man nichts. Stattdessen zählen jene zu den bösen Populisten, die die Beschränkungen der Grundrechte beim Namen genannt haben. Diese Restriktionen sind aber auch von bekannten Staatsrechtslehrern (von Hans-Jürgen Papier über Dietrich Murswiek bis Christian Hillgruber) als unverhältnismäßig zurückgewiesen worden.
Die Politologin nennt eine simplifizierende Alternative: nämlich die zwischen Gesundheit und ökonomischem Wohlstand, die angeblich von den Gegnern der Corona-Politik bevorzugt werde. Niemand jedoch von den gescholtenen Populisten hat sich für ein solches Entweder-oder ausgesprochen und dann für den Vorrang der Wirtschaft plädiert. Vielmehr verläuft eine saubere Übelabwägung anders: Bringt der Lockdown nicht eine noch größere Zahl von Opfern als der Verzicht darauf? Dafür gibt es zumindest einige Belege. Die Zahl der Selbstmorde hat in dieser Phase zugenommen, besonders bei Depressiven.
Vorsorgeuntersuchungen wurden in größerer Zahl abgesagt, wichtige Operationen verschoben. Da insbesondere Ältere weniger Kontakte pflegten und sich wohl zumeist auch weniger bewegt haben, dürfte das Risiko von Thrombose-Erkrankungen tendenziell zunehmen. Weitere Beispiele ließen sich leicht finden.
Obwohl der Text von Frau Münch erst kürzlich verfasst wurde, schwadroniert die Verfasserin über mögliche überlastete Krankenhäuser und hohe Todeszahlen nicht „nur“ bei Älteren. Mittlerweile ist bekannt, dass es hierzulande nirgendwo eine Überlastung gegeben hat. Warum dies in anderen Ländern wie in den USA, Spanien und Italien anders gewesen ist – darüber gibt es schon jetzt diverse Analysen. Sie setzen zumeist bei den Gesundheitssystemen der betreffenden Länder an.
Die Zeilen der Verteidigerin der offiziösen Politik hören sich an, als wären sie im März geschrieben worden. Damals kannte man natürlich den weiteren Infektionsverlauf noch nicht. Jedoch gilt auch: Selbst kurz vor Inkrafttreten des Shutdowns im März sind die Reproduktionszahlen unter eins gesunken. Die Stilllegung des öffentlichen Lebens hat an dieser relativ geringen Verbreitung nichts geändert, war also vielmehr kontraproduktiv.
Das von Münch erwähnte „Vorsorge-Paradoxon“ verdient natürlich eine Erörterung. Hätten die Regierenden nicht gehandelt, wären alle „Corona-Toten“ von der kritischen Presse ihnen angelastet worden. Handeln sie, können die „Erfolge“ angezweifelt und nicht als direkte Konsequenz der hoheitlichen Anordnungen, sondern trotz dieser Erlasse und unabhängig davon, gesehen werden. Derartige Schwierigkeiten lassen sich nicht völlig leugnen.
Einige Monate später weiß man naturgemäß mehr. Differenzierungsunfähige Regierungsmedien wie der oben erwähnte „Akademie-Report“ ignorieren die überall diskutierten Erkenntnisse der letzten Zeit. Die mediale Berichterstattung war anfangs von großer Hektik und schneller Veraltung der Informationen geprägt. Mitte 2020 ist hingegen manches klarer. Unstrittig ist zu diesem Zeitpunkt, dass seit Mai die Fälle von Corona-Erkrankungen und „Corona-Toten“ weiter sinken – egal ob sie „mit“, „an“ oder an den Folgen von Corona verstorben sind, was sich in der Praxis oft nicht genau unterscheiden lässt.
Die Daten des statistischen Bundesamts, die jeder mit wenigen Klicks abrufen kann, zeigen beispielsweise für März 2020 eine klare Untersterblichkeit, obwohl der Lockdown erst Ende März in Kraft trat. Das bedeutet, dass in diesem Monat weniger Menschen verstorben sind als in den entsprechenden Zeiträumen 2018 und 2019. Erklärungen dafür sind schnell zu finden. Eine in diesem Frühjahr ausgebliebene Grippewelle ist ein Hauptgrund für diesen statistischen Befund. Jedenfalls bedeutet Sars-Cov-2 nur für bestimmte Gruppen der Bevölkerung ein erhöhtes Lebensrisiko. Betroffen sind vor allem Menschen mit spezifischen Vorerkrankungen. Die immer wieder für Aufregung sorgenden Infektionszahlen sind wenig aussagekräftig, da von den Betroffenen nur ein relativ kleiner Teil erkrankt (wohl deutlich unter 10%) und ein noch wesentlich kleinerer Teil beatmet werden muss (deutlich weniger als 5%).
Trotz solcher Erkenntnisse wird niemand folgern, dass das Virus, das die Welt so sehr im Griff hat, pauschal harmlos ist. Zu Panikreaktionen gibt es aber ebenfalls keinen Grund. Der bekannte Virologe Henrik Streeck hat verschiedentlich mit ausgewogenen Urteilen von sich reden gemacht. Die von Streeck schon früh vermutete Sterblichkeitsrate von 0,37% (gemessen an der Gesamtzahl der Infizierten, die man nur schätzen kann) dürfte inzwischen unterschritten werden. Von den Panikpropheten werden gern – im mikroskopischen Bereich liegende – Zahlen von Menschen ohne Vorerkrankungen und in jüngeren Lebensjahren angeführt, die an Covid-19 erkrankt und verstorben sind. Ja, diese Schicksale gibt es. Aber derartige Gefahren hängen mehr mit dem grundsätzlichen Lebensrisiko der Menschen zusammen als mit der Seuchenproblematik.
Auch „über dem See“ im schönen Süddeutschland ersetzen unsachliche Rundumschläge mitunter die gebotenen vielschichtigen Analysen. Es scheint sich noch nicht bis zu der an der Universität der Bundeswehr in München lehrenden Politologin herumgesprochen zu haben, dass Pauschalurteile über Populisten schon deshalb falsch sind, weil jene Vertreter, die man üblicherweise unter diesen Kampfbegriff subsumiert, nicht alle gleich reagiert haben. Viktor Orban verwendete die neuen Vollmachten, um die Gefahren entschlossen zu bekämpfen, zögerlicher hingegen reagierten Trump und Bolsonaro.
Schaut man genauer hin, so war sich am Anfang der Corona-Kontroversen hierzulande auch die AfD – und um die geht es ja in Deutschland bei der Verwendung des inhaltsleeren Schlagworts „Populismus“ meist – uneinig. Das brachte ihr etliche Häme ein. Kritiker sprechen gern von einer Kakophonie der Stimmen. Unsicherheit über die Einschätzung der Lage erfasste aber so gut wie sämtliche Entscheidungsträger. Man musste um ein angemessenes Verhalten ringen. Erst nach einigen Monaten sah man klarer. Die AfD-Bundestagsfraktion lud im Rahmen einer Tagung die italienische Top-Virologin Maria Gismondo ein, Leiterin eines Forschungslabors, die unter anderem in ihrem Referat unterstrichen hat, dass auch in Italien nur ein kleiner Teil der „Corana-Toten“ wirklich „an“ Corona verstorben ist. Scharf griff sie die Verunsicherung der Bevölkerung durch die mediale Bilderflut an.
Angesichts solcher Entwicklungen, wie sie hier in Kürze skizziert wurden, überrascht die Heftigkeit, mit der seitens der meisten Regierungsmedien Anti-Corona-Demonstranten attackiert werden. Hätte Frau Münch auch zu diesem Themenkomplex Stellung genommen, so hätte sie wohl auf die große Zahl von angeblichen Verschwörern, Esoterikern und vermeintlichen Rechtsextremisten verwiesen. So lautet nun einmal das offiziöse Narrativ der formal freien, faktisch aber häufig gleichgeschalteten „Qualitätsmedien“, zu denen auch der „Akademie-Report“ zählt. Sicherlich ist nicht zu leugnen, dass die Großkrise jede Menge Skurrilitäten, Verschwörungsmythen und extremistische Meinungen produziert. Solche Haltungen sagen freilich wenig über das primäre Anliegen der Mehrheit der Teilnehmer auf Großdemonstrationen gegen Freiheitsbeschränkungen. Die Protestierenden sind in nicht wenigen Fällen von der Vernichtung ihrer ökonomischen Existenz bedroht. Hier tötet der Erreger tatsächlich – nämlich in sozialer Hinsicht. Eine gut bezahlte Professorin mit weiterlaufenden Bezügen kann sich in derartige Existenznöte kaum einfühlen.
Establishment-Vertreter meinen üblicherweise, das Anliegen durch Hinweis auf einige Sonderlinge (vielleicht sogar Agents Provocateurs!) diskreditieren zu können.
Am Ende des erwähnten Statements fordert die regierungskonformistische Direktorin eine „Arena der Öffentlichkeit“. Das ist ein starkes Wort, da „Arena“ stets Vielfalt impliziert. Sie verweist auf die Notwendigkeit der informellen Gewaltenkontrolle durch die Medien; weiter fordert sie eine verantwortungsvolle Mediennutzung. Sie freue sich auf eine interessante Debatte mit dem Akademiepublikum. Eine kritische Auseinandersetzung mit ihren eigenen Positionen ist in der Tat wünschenswert.
Professor Dr. Felix Dirsch lehrt Politische Theorie und Philosophie. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von „Nation, Europa, Christenheit“ und „Rechtes Christentum„. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.
2012 erschien sein Buch „Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens“.
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Text: Gast