Das erste Opfer des Krieges ist immer die Wahrheit, besagt ein Sprichwort. Da selbst Präsidenten wie Emmanuel Macron die Corona-Krise mit einem Krieg gleichsetzen, liegt also zumindest der Verdacht nahe, dass diese alte Weisheit auch für den Kampf gegen das Corona-Virus gilt. Um zu dieser Erkenntnis zu gelangen, muss man nicht Anhänger einer Verschwörungstheorie sein – einer echten, meine ich, denn das Wort Verschwörungstheorie wird heute allzu oft missbraucht, um etwa Kritik an Fehlern der Regierung zu diffamieren und so einzuschränken. Man muss auch nicht einmal daran zweifeln, dass die SARS-CoV-2-Viren – so ihr wissenschaftlich korrekter Name – sehr gefährlich sind und einschneidende Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung unerlässlich sind. Aber gerade angesichts dieser Notwendigkeit wünscht man sich Ehrlichkeit oder, wie das früher in der Sowjetunion hieß, Glasnost. Je stärker die Einschnitte in die Grundrechte, umso transparenter und offener müssen diese begründet werden, umso strikter muss die Kontrolle der Regierung durch Medien und Bürger ausfallen.
Von solcher Offenheit sind wir leider weit entfernt. So zeigte etwa die „Tagesschau“ der ARD bis vor kurzem in ihren jeweiligen Ausgaben nicht nur die sehr große Gesamtzahl der Corona-Infizierten. Die flößt schon aufgrund der schieren Masse Angst ein, ist aber nicht allzu aussagekräftig, denn sie gibt ja keinerlei Hinweis auf die aktuelle Dynamik der Pandemie. Deshalb war bis vor kurzem unter der Gesamtzahl, wenn auch eher klein, die Zahl der Neuansteckungen am aktuellen bzw. vorherigen Tag zu finden: Diese ist für die Einschätzung der aktuellen Entwicklung weitaus wichtiger und beträgt nur einen Bruchteil der Gesamtzahl der Infizierten, ist also weitaus weniger furchteinflößend Ein aufmerksamer Leser hat herausgefunden, dass diese Zahl – die inzwischen meist deutlich geringer ausfällt als noch bis Mitte des Monats – seit dem 17. April nicht mehr eingeblendet wird, obwohl das Robert-Koch-Institut sie weiter meldet. Hier sehen sie den Unterschied:
Auch bei der Zahl der Toten wird der Anstieg in den beobachteten Sendungen der Tagesschau nicht mehr gezeigt – da ist nur noch die absolute Zahl der Toten zu sehen, die natürlich beunruhigender wirkt.
Bei solchen Statistik-Spielen muss man an das interne Strategie-Papier des Innenministeriums denken. Darin wurde Ende März unter anderem erörtert, wie es machbar sei, die „gewünschte Schockwirkung zu erzielen“. Als eine Möglichkeit dafür wurde dann eine „Verdeutlichung“ genannt: „Das Ersticken oder nicht genug Luft kriegen ist für jeden Menschen eine Urangst.“ Darf der Staat das, absichtlich Urängste wecken? (Details siehe hier).
Wie stark die Regierung (und in ihrem Schlepptau viele Medien) derzeit mit Zahlen spielen, zeigt, dass mehrfach die Bemessungsgrundlagen für die Corona-Beschränkungen geändert wurden. Zuerst hatte Merkel verkündet, über eine Lockerung könne diskutiert werden, wenn die Verdoppelungszahl, also die Zahl der Tage, in denen sich die Infektionen verdoppeln, auf zehn Tage gestreckt sei. Mittlerweile haben wir sogar ein Vielfaches dieser Zielvorgabe erreicht – mehr als 30 Tage. Also eigentlich genau Anlass für das, was Merkel unterbinden will – „Öffnungsdiskussionsorgien“ (die Kanzlerin hat eine merkwürdige Vorstellung von Diskussion und/oder Orgien).
Aber Pustekuchen! Ohne wirklich nachvollziehbare Begründung, eher klammheimlich, wurde einfach der Maßstab geändert – mit einem Mal war es die Reproduktionsrate, die für entscheidend erklärt wurde. Ein Wert, der viel schwerer objektiv zu erfassen ist. Und auch für die Reproduktionsrate wurde, als diese fiel, ein neuer Bemessungsgrundsatz eingeführt. Ob inzwischen auch dieser nicht mehr das richtige Resultat bringt? Die aktuelle Reproduktionsrate ist jedenfalls auf einmal aus dem Bulletin des Robert-Koch-Instituts verschwunden. Auch wenn es böse klingt und zugespitzt ist: Man fühlt sich ein bisschen an Hütchenspielerei erinnert.
Und die Ähnlichkeiten gehen noch weiter: Noch am Montag führte die Kanzlerin aus, die positive Entwicklung bei den Neuinfektionen sei – wörtlich – „sozusagen das Ergebnis der Kontaktbeschränkungen“. Was für eine bemerkenswerte Formulierung: Die Botschaft wird so ausgedrückt, dass man immer sagen kann, man hätte das gar nicht behauptet – aber genau das, was man nicht behauptet hat, bleibt beim Zuhörer hängen. Sprach-Akrobatik vom Feinsten.
Und die Kanzlerin hat ihre guten Gründe dafür. Belege, dass der positive Trend Resultat der Kontaktbeschränkungen ist, gibt es zumindest nach Ansicht von Zweiflern wie dem Professor Stefan Homburg von der Universität Hannover nicht. Im Gegenteil: Laut dem RKI-Lagebericht vom Dienstag ist die Zahl der Neuerkrankungen schon seit dem 18. März kontinuierlich rückläufig, wie Homburg darlegt. So früh aber konnten die ersten Maßnahmen ab dem 16. März gar nicht wirken, wenn man die Inkubationszeit mit einberechnet. Hier steht also zumindest der Verdacht im Raum, dass (nicht nur von Merkel, sondern auch von anderen Politikern) mit auffällig ungefähren, vagen Formulierungen ein falscher Eindruck erweckt wird – der eines kausalen Zusammenhanges zwischen Trendwende und Maßnahmen, der so laut Homburg nicht belegbar ist. Besonders brisant wird dieses Thema vor dem Hintergrund einer Studie aus Israel, der zufolge die Verbreitung des Virus in allen untersuchten Ländern nach vierzig Tagen einen Höhepunkt erreicht und nach 70 Tagen nahezu völlig abflacht – egal, welche Maßnahmen in dem jeweiligen Land ergriffen werden (siehe hier).
Hier tauchen sofort weitere Fragen auf: Etwa, welchen Einfluss der Frühlingsbeginn hat, also der deutliche Temperaturanstieg. Laut dem Influenza-Wochenbericht des RKI sind seit März-Beginn sämtliche Atemwegserkrankungen in der Bundesrepublik stark zurückgegangen. Dieser Trend deckt sich mit der Entwicklung von Covid-19-Erkrankungen ebenso wie mit der von Atemwegserkrankungen in den Vorjahren.
Für all diese Phänomene mag es Erklärungen geben und gute Gründe, warum die strikten Einschränkungen der Grundrechte weiter nötig sind. Es ist gut möglich, dass Professor Homburg und andere Zweifler irren. Aber die Zweifel müssten zumindest ausgeräumt werden, es müsste eine offene, breite Diskussion darüber geben, gerade auch in den öffentlich-rechtlichen Medien, und die Regierung müsste die Widersprüche erklären. Etwa, indem sie Fehler zugibt. Und für maximale Transparenz sorgt, dafür, dass alle Zahlen offen liegen, alle Maßstäbe nachvollziehbar sind, alles vergleichbar ist.
Derzeit hat man aber eher den Eindruck, dass Intransparenz, wenn nicht gezielt erzeugt, so doch zumindest hingenommen wird. Im Zweifelsfall ohne jede böse Absicht, sondern weil das fundierte Wissen so gering ist und sich die Informationslage permanent so massiv ändert, dass die Kanzlerin und ihre Truppe unser Land steuern müssen wie ein Pilot seine Maschine im dichten Nebel durchs Hochgebirge. Aber auch mit dieser Unsicherheit müsste offener umgegangen werden – statt den Menschen genau die Gewissheiten vorzugaukeln, nach der viele in diesen Zeiten der Verunsicherung lechzen. Das ist Populismus. Und gefährlich, weil die unvermeidbare Welle der Enttäuschung mittelfristig nicht nur die Regierenden, sondern auch Grundpfeiler unserer Demokratie wegzuspülen droht.
Die Hoffnung auf Glasnost ist gering. Schlimmer noch: Wenn man sich nicht, wie viele in der Krise, eine rosarote Brille aufsetzt zur Eigenberuhigung, muss man sich eingestehen, dass unsere Regierung nicht allzu viel Vertrauen verdient. Dazu muss man gar nicht auf die vielen Fehler hinweisen, wie von Gesundheitsminister Spahn, der Corona noch im Februar mit der Grippe verglich und sagte, Verschwörungstheorien seien gefährlicher als das Virus. Um zu zeigen, wie vertrauenswürdig die Regierung ist, reicht ein besonders drastisches Beispiel, das viele schon vergessen haben:
Schon in der zweiten März-Woche bekam ich von gut unterrichteten, vertrauenswürdigen Kreisen in Berlin den Hinweis, dass im Zuge der Pandemie weitgehende Maßnahmen vorbereitet würden. Und ich schrieb auch darüber. Meine Hinweise waren nach damaliger offizieller Position der Regierung „Fake News“. Denn noch am 14. März, als die Vorbereitungen bereits auf Hochtouren liefen, verbreitete Spahns Gesundheitsministerium folgende Information:
Nur zwei Tage später verkündete Bundeskanzlerin Merkel genau solche massiven Einschränkungen des öffentlichen Lebens. Die Fake News von vorgestern war nun offizielle Regierungspolitik. Die Bundesregierung kann nur von Glück sagen, dass der alte Spruch – „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, wenn er auch die Wahrheit spricht“ – heute von der Mehrheit der Menschen vergessen zu sein scheint. Auf Dauer wird sich die Regierung aber nicht durch die Krise mogeln können. Und die ganzen Tricksereien werden wie ein Bumerang auf sie zurückkommen.
P.S.: Eine Leserin hat mich noch auf diese zwei Aussagen von Spahn aufmerksam gemacht – erstaunlich, wie schnell Erklärungen eines Gesundheitsministers zu Fake News werden, vor denen der Gesundheitsminister warnt.
Bild: Shutterstock, Täglicher Lagebericht des RKI vom 21.4.20, Influenza-Wochenbericht 15/2020