Die Tyrannei des Duzens

Ein Gastbeitrag von Josef Kraus, Bildungs- und Bundeswehrexperte

In immer weiteren gesellschaftlichen Kreisen gilt das Siezen, also die Anrede mit „Sie“, als antiquiert, steif, uncool. Großfirmen ordnen das „Du“ für alle Mitarbeiter geradezu an. Selbst der Chef wird zum „Du, Chef“: bei Lidl, Kaufland, H&M, IKEA, in der IT-Branche usw. Ob hier jeweils § 87 des Betriebsverfassungsschutzgesetzes (BetrVG) beachtet wird, sei dahingestellt. Jedenfalls hat der Betriebsrat mitzubestimmen in „Fragen der Ordnung des Betriebes und des Verhaltens der Arbeitnehmer im Betrieb.“ Die Art der Anrede untereinander gehört dazu. Da Betriebsräte überwiegend gewerkschaftlicher Herkunft sind, wird dort eher die Neigung auch zum „Du“ gegenüber dem Chef vorherrschen. Der Song „Hey, Boss, ich brauch‘ mehr Geld!“ des Country-Rockers Gunter Gabriel aus dem Jahr 1974 lässt grüßen.

Im Internet wird fast nur geduzt – selbst auf Shoppingportalen wie Zalando. Bei Privatsendern ist es ohnehin üblich, Hörer und Anrufer zu duzen, und auch bei den Öffentlich-Rechtlichen etabliert sich das Duzen mehr und mehr – vor allem in Programmen und Sparten, in denen bevorzugt Wetter- und Verkehrsnachrichten anstehen: „Achtung, Autofahrer, auf der A XY kommt euch ein Falschfahrer entgegen. Überholt nicht, fahrt am äußersten rechten Fahrbahnrand …. Wir wünschen euch weiter eine gute Fahrt.“ Als nichts Halbes und nichts Ganzes hat sich hier das „Ihrzen“ eingebürgert. Man sagt nicht „Du“ und nicht „Sie“, sondern man duzt im Plural „Ihr/Euch“ und damit ein winziges Stück höflicher. Zum Beispiel beim Einkauf: „Habt ihr einen Merlot im Angebot?“

Die seit Jahren um sich greifende „Du“-Inflation geht weit über das hinaus, was früher üblich war: Früher galt das „Du“ nur unter Familienmitgliedern, Sportlern, Landwirten, Handwerkern, Fernfahrern, Vereinsmitgliedern, „Genossen“ linker Parteien, im Bordell …. In allen anderen Bereichen war das „Sie“ angesagt. Diese Differenzierung hat in der deutschen Sprache ihre Geschichte. Bis ins Mittelalter hinein gab es nur das Du. Nach dem Mittelalter bürgerte sich die 3. Person Singular oder auch die 3. Person Plural für „Höhergestellte“ ein: „Hat Er gut geschlafen? – Haben Sie gut gespeist?“ Ab Ende des 18. Jahrhunderts verfestigte sich das Siezen: In bürgerlichen Kreisen siezte man sogar die Eltern. Selbst Goethe sprach bzw. schrieb seine Mutter mit „Sie“ an. Vor 1968 siezten sich teilweise sogar die Studenten. Heute ist es freilich auch im akademischen Bereich üblich, sich zu duzen oder in abgespeckter Form zu siezen, und zwar als Siezen ohne Nennung des Titels „Dr.“ oder „Prof.“

Fast alle Sprachen kennen die Differenzierung zwischen dem Du und dem Sie. Das Siezen dominiert, vereinzelt gibt es freilich auch einen Trend zum Du. Nachfolgend nur wenige ausgewählte Beispiele, denn über das Du/Sie in anderen Sprachen lassen sich umfangreiche Bücher schreiben: Recht streng sind die Franzosen, wo nach wie vor und selbst in der Internetkommunikation das „vous“ dominiert. In Schweden hat man bereits in den 1960er/1970er Jahren das „Sie“ abgeschafft und durch das „Du“ (mit Anrede des Vornamens) ersetzt; eine Ausnahme stellt die Königsfamilie dar, sie wird nach wie vor gesiezt. Im Englischen fehlt eine förmliche Unterscheidung von du und Sie; die höfliche Anrede wird auf Englisch mit Titeln verbunden – etwa mit „Sir“ oder „Madam“ bzw. „Mr“/“Mrs“. Im Russischen ist das „Du“ allgegenwärtig, aber man darf – zumal als Ausländer – nicht immer zurückduzen. Ansonsten ist die Anrede per „Sie“ (Вы) in Verbindung mit dem Vor- oder Vatersnamen verbreitet; die Anrede „Herr“ oder „Frau“ gilt eher als steif und kalt. Falls ein „Du“ gegenüber Fremden oder Höhergestellten verwendet wird, wird die Unterordnung durch den Kontext signalisiert: „Du Zar – ich Sklave“. Aber auch der „Genosse“ (товарищ; towaritschtsch) wirkt in Russland heute als anachronistisch. Dabei ist alles babylonisch noch viel komplizierter, wie der Betreiber dieser Plattform und Russlandexperte Boris Reitschuster bestätigt. (Siehe sein Buch „Russki Extrem“ von 2009!) Das Ungarische unterscheidet übrigens sogar drei Anredeformen: te (für Nähe und Vertraulichkeit), maga (für Distanz) und Ön (für Förmlichkeit und Respekt).

Egal in welcher Sprache: Die Anrede korreliert oft mit Gestik, Mimik, Sprechstimme, Pantomimik (Körpersprache), räumlichem Distanzverhalten und Kleidung. Nur ein simples Beispiel: Krawattenträger duzen seltener und werden seltener geduzt. Aber das offene Hemd löst ja mittlerweile auch bei hochoffiziellen oder medialen Ereignissen mehr und mehr die Krawatte ab. Und selbst der Restbestand an Höflichkeit im deutschen „Du“ wurde 1996 qua Rechtschreibreform zur Disposition gestellt. In Briefen muss nicht mehr „Du/Dein/Ihr/Euer“ geschrieben werden, sondern es reicht „du/dein/ihr/euer“.

Es ist nicht leicht, all die Differenzierungen zu beherrschen. Kinder brauchen eine gewisse Zeit dafür. Für sie ist erst einmal das „Du“ allgegenwärtig – bis weit in die Grundschule hinein: „Du, Frau Lehrerin ….“ Sie können auch noch nicht verstehen, warum die wechselseitige Ansprache nicht immer dem Reziprozitätsprinzip unterliegt: wenn nämlich Lehrer ihre Schüler bis zu einem gewissen Altern duzen, selbst aber gesiezt werden müssen. Abgesehen von den längst pensionierten Lehrern, die sich in Folge der 68-Revolte zum Kumpel ihrer Schüler machten und geduzt werden wollten.

Und heute? Heute will man locker, kuschelig, burschikos, lässig sein. Zwei Drittel der Deutschen fühlen sich nicht pikiert oder beleidigt, wenn sie von Fremden ungebeten geduzt werden. Auf den Namensschildern von Mitarbeitern steht in US-amerikanischer Manier oft nur der Vorname, der zum Duzen einlädt. TV-Moderatoren sprechen sich transatlantisch mit Vornamen an – halb Du, halb Sie. Ein „Du“ gegenüber Amtspersonen, etwa Polizisten, gilt nicht mehr in jedem Fall als Beamtenbeleidigung, die früher schon auch mal 300 D-Mark Strafe kostete.

Werden wir grundsätzlich: Die Art und Weise, wie ich einen anderen Menschen anspreche, sollte eigentlich das zwischenmenschliche Verhältnis von Nähe und Distanz zueinander symbolisieren. Es ist dies eine Frage bürgerlicher Höflichkeit und bürgerlichen Taktgefühls. Ein Eindringen ins Private durch ein Duzen ist das Gegenteil davon, weil es mich öffentlich zur Preisgabe von Privatheit drängt. Es ist dies eine Entgrenzung zwischen Privatem und Öffentlichem: Für die 68er galt, dass das Private politisch ist. „My home is my castle“ gilt nicht mehr. Es kam zu einer Tyrannei des Intimen, wie sie Richard Sennet beschrieben hat. (Siehe sein Buch“: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität“ von 2004.)

Vergleichbare Entgrenzungen finden durch das Internet und die „sozialen“ Medien statt. Freundschaft wird entgrenzt durch Tausende von facebook-Freunden. Hier ist das Duzen ein Duzen ohne echte Nähe, ein Duzen der Zudringlichkeit, ein Duzen der Pseudo-Vertraulichkeit. Das hat nichts damit zu tun, dass qua „Sie“ keine Vertraulichkeit und keine Nähe möglich wären. Im Gegenteil, aus einem „Sie“ kann tiefere Vertraulichkeit erwachsen als aus einem lapidar dahingesagten „Du“. Aus einem „Sie“ ergibt sich bei notwendigen Kritikgesprächen auch eher eine sachliche und eine weniger persönlich tiefgehende, womöglich verletzende Atmosphäre.

Ansonsten hat eine kritische Betrachtung des Duzens nichts mit dem „Du“ zu tun, mit dem ich Gott oder Jesus oder die Gottesmutter Maria oder Heilige im Gebet anspreche. Dann nämlich entspringt das „Du“ einer Vertraulichkeit, die ich im Gebet wechselseitig vereinbart habe und die mir umgekehrt in den Zehn Geboten begegnet.

Apropos „68“: Zu den obersten Dogmen der 68er und ihrer Epigonen zählten bzw. zählen der Egalisierungswahn, der anti-autoritäre Affekt und die Ent-Hierarchisierung der Gesellschaft. Alle Menschen sollen gleich, vulgo: gleichwertige und gleichartige Genossen sein! Und wenn sie denn nicht gleich sind, dann sind sie qua Gesellschaftspolitik oder qua Pädagogik oder qua Duzen gleichzumachen, so wie die Jakobiner Kirchtürme einrissen, wenn sie ungleich hoch waren. Insofern dürfe die Würde eines Menschen nach den Vorstellungen der 68er nicht von einer Anrede abhängen. Welch seltsames Verständnis von Würde bzw. welch seltsames Unverständnis von Würdelosigkeit!


Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)


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