„Wir haben vier lange Tage und Nächte durchverhandelt. Aber es war es wert. Das Ergebnis ist ein Signal des Vertrauens in Europa und es es ist ein historischer Moment für Europa“, schrieb EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen heute früh auf twitter. Viele Medien überschlagen sich geradezu vor Begeisterung. „Fünf Eckpunkte, zwei davon historisch“, titelt die „Zeit“: „Die Europäische Union steht vor dem nächsten großen Integrationsschritt.“ Weiter geht es in dem Text wie in einem Helden-Epos: „In dieser historischen Nacht, in der 27 europäische Regierungschefinnen und -chefs den EU-Haushalt verdoppeln, ist um sie herum so gar nichts los: leere Bürgersteige im Brüsseler Europaviertel, in den Eckkneipen laufen Fußballspiele….Und doch schreiben die da drüben gerade Geschichte. Denn es ist die Nacht der Einigung.“ Höhepunkt des Textes, der mehr Hymne ist als journalistische Arbeit: Das sei „der Beginn eines solidarischen Europas“, zitiert der Autor den Leiter eines proeuropäischen Thinktanks (wo käme man da hin, jemand mit einer anderen Meinung zu befragen): „An jeden so ausgegebenen Euro müsste man eine kleine europäische Flagge kleben, damit die Leute wirklich merken, dass es jetzt Europa ist, das für sie zahlt“.
Die „Welt“ verdreht in ihrer Überschrift die Tatsachen und macht den Zahlmeister zum Nutznießer: „Merkel sichert Deutschland zusätzliche Milliarde“. Phänomenal: Der deutsche Steuerzahler muss mehr als 100 Milliarden Euro aufbringen vor allem für die Mittelmeer-Anrainer, die deutlich mehr Vermögen haben als die Spender – und bei der „Welt“ ist das zentrale Thema, die Überschrift, dass Merkel eine (zur Wiederholung – eine) Milliarde sicherte. Überschrift der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Die Magie des europäischen Projekts lebt“. Bei Tagesschau.de lautet die Schlagzeile: „Historischer Tag für Europa“. Ähnlich heute.de: „Gipfel, dessen Ergebnisse historisch sind„.
Es ist auffallend, wie, fast wie von Geisterhand gelenkt, sich die Überschriften gleichen, und wie oft das Wort „historisch“ fällt. Offenbar hat sich ein recht synchrones Denken unter den Journalisten breit gemacht, wenn man nicht an noch Schlimmeres denken will.
- Süddeutsche: „Historischer EU-Sondergipfel endet mit Einigung.
- Deutsche Welle: „EU-Gipfel: Einigung auf historisches Corona-Paket steht“
- Spiegel: „Historischer Paradigmenwechsel“
- n-tv: „Historische Corona-Hilfen der EU“
- Stuttgarter Zeitung: „Darum ist das Hilfspaket eine historische Leistung“
- NOZ: „Historischer Tag für Europa“: EU-Gipfel einigt sich auf Finanzpaket
- Tagesspiegel: „Historischer Tag für Europa“
Die Liste ließe sich lange fortsetzen. In der Überschrift des in Teilen zur SPD gehörenden Redaktionsnetzwerks Deutschlands, das mehr als 50 Zeitungen mit Artikeln beliefert, heißt es in leicht veränderter Wortwahl: „EU-Gipfel: Staatschefs einigen sich auf größtes Finanzpaket der EU-Geschichte“.
Die Bezeichnung „historisch“ geht auf die Einschätzung des Gipfel-Kompromisses von Frankreichs Staatspräsident Macron zurück. Dass Journalisten aber fast durch die Bank Selbstlob von Politikern über vermeintliche eigene Erfolge als Überschriften übernehmen, war zumindest noch nicht so, als ich in den 1990er Jahren den Journalismus gelernt habe. Da galt das eher als verpönt.
Manche Zeitungen halten sich zumindest noch ansatzweise an die alten Regeln. So titelt die Rheinische Post: „Ein historischer Beschluss, der auch Bauchschmerzen macht“. Auch in vielen anderen Medien sind dann durchaus noch ein paar kritische Stimmen zu hören. Die Meinungsmache neudeutsch Framing, wird aber durch die Schlagzeilen und die Gewichtung auf den Seiten stramm in Richtung Jubelei gesetzt.
Dabei sehen kritische Experten den Gipfel als Katastrophe. „Es ist die Verabredung zum gemeinschaftlichen Vertragsbruch und das Signal, dass jedes Vertrauen in die Rechtstreue der EU illusionär ist“, findet Jürgen Joost, Bundesvorsitzender der Liberal-Konservativen Reformer (LKR): „Merkel personifizierte die rechtswidrige Umverteilung zum Schaden der deutschen Steuerbürger wie niemand sonst.“ Und weiter: „Es ist schon bemerkenswert, dass der Vertragsbruch niemanden im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und den etablierten kommerziellen Medien zu interessieren scheint. Er wird nicht einmal erwähnt. Welch ein Versagen der 4. Gewalt!“
Der Vertragsbruch bestehe darin, dass Artikel 311 AEUV vorschreibt, dass sich die EU ausschließlich aus Eigenmitteln finanziert, so Joost: „Es handelt sich also um ein explizites Verschuldungsverbot. Dagegen wird schon bei der 100 Milliarden-Einstiegsdroge SURE verstoßen, jetzt kommen die harten Drogen. Es ist davon auszugehen, dass – wie schon bei SURE – außerdem Artikel 125, also das Haftungsverbot für andere Staaten, gebrochen wird“. Die Entscheidung sei somit der Einstieg zu einer Fiskalunion, so Joost: „Dass es sich um einen großen Erfolg für Deutschland handeln soll, halte ich jedoch für ausgemachten Unsinn. Stattdessen wird mit dem Vertragsbruch Rechtsstaatlichkeit als Grundpfeiler der EU aufgegeben.“
Dass parallel mit den Vertragsbrüchen im Hinblick auf Polen und Ungarn ein Passus zur „Rechtsstaatlichkeit“ vereinbart wurde, kritisiert Joost scharf: „Im selben Atemzug den Bruch der EU-Verträge zu verabreden und einen Passus zu rechtsstaatlichem Verhalten von Mitgliedsländern einzufügen ist blanker Hohn und im Grunde eine Beleidigung der Intelligenz der Bürger.“
Joosts Fazit: „Alle haben gedealt, Deutschland verloren.“ „Italien jubelt, Merkel ist zufrieden und der deutsche Steuerzahler ist wieder mal der große Verlierer“, klagt der Bundestagsabgeordnete Uwe Kamann (parteilos). Sein Kollege Harald Weyel schreibt zum Gipfel auf facebook: „Hier geht es um politvergiftete Geldgeschenke, Bestechung und vorsätzlichen Betrug, wie man es sonst nur aus der katastrophalen ‘Entwicklungshilfe‘ kennt. Wenn die selbsternannte Werte- bzw. Moralweltmacht EU-ropa sich also verhält wie ein ‘Entwicklungsländer‘-Konglomerat, so kann man nur hoffen, daß wenigstens ein Standard à la ‘Land der aufrichtigen Menschen‘, sprich ‘Burkina Faso‘ (ehemals ‘Obervolta‘) gehalten bzw. erreicht werden kann.“
Bemerkenswert ist, wie bei der EU-Einigung nicht nur das weitgehende Fehlen einer kritischen Berichterstattung deutlich wird, sondern auch das einer funktionierenden Opposition bzw. deren Totschweigen. Sucht man bei google-news nach „FDP EU“ (oder EU-Gipfel) und „AfD EU“, findet sich kein einziger Bericht mit Bezug auf den Gipfel, ebenso wenig bei „Grüne EU“ und „Linke EU“ (Stand: 14.00 Uhr, 21.7.2020). Die AfD kritisiert zwar, das wird in den Medien aber offenbar nicht wiedergegeben. Die anderen kritisieren offenbar gar nicht. Auf der Internetseite der FDP ist folgender Artikel der Aufmacher: „Europa: Eine Ratspräsidentschaft der richtigen Impulse„. Auf Christian Lindners twitter-Seite mit ihren 403.000 Followern herrscht gähnendes Schweigen zu dem Gipfel.
Faktisch wird die Entscheidung die EU mittelfristig sprengen, insbesondere durch den Verstoß gegen die eigenen Verträge und das Brechen der eigenen Spielregeln. Die dadurch entstehenden Verwerfungen werden auf Dauer nicht auszuhalten sein. Auch die Deutschen werden sich kaum auf alle Ewigkeit mit dem Merkelschen Prinzip abfinden, dass die deutschen Steuerzahler die Zeche für andere Länder bezahlen – auch für Misswirtschaft und für Staaten, deren Einwohner viel vermögender sind als die Deutschen selbst.