Gastbeitrag von Professor Felix Dirsch
Die freiheitliche Richtung des politischen Spektrums musste in den letzten Jahren einige Rückschläge einstecken – ungeachtet vom Auf und Ab in aktuellen Umfragen ist das Phänomen „Postliberalismus“ (Felix Böttger) etwas näher zu analysieren.
Wenn man die politische Großwetterlage der Jahre 2019/20 zu skizzieren versucht, so darf der Hinweis auf die chronische Krise des Liberalismus nicht fehlen. Bei dieser Diagnose handelt es sich nicht um einen Schnellschuss. Natürlich: Der parteipolitische Arm des Liberalismus kennt Höhen und Tiefen. Mal zieht man ins Parlament ein, mal ist man draußen. So ist es verständlich, dass der FDP-Vorsitzende Christian Lindner vor knapp drei Jahren, nach dem Erfolg bei den Bundestagswahlen, seinem Buch „Schattenjahre“ den Untertitel „Die Rückkehr des Liberalismus“ gab. Wie schön, er ist also wieder da! Fragt sich nur wie lange.
Beim Sommerinterview 2020 gab sich der Chefliberale erstaunlich offen und wollte das Umfrage-Tief nicht schönreden. Wir dringen mit unseren Themen nicht durch, so sein ehrlich-pessimistisches Urteil. Und das schon seit einiger Zeit! So ist ein kurzer Blick auf Schwerpunkte der politischen Gegenwartsdebatte zu werfen.
Die strukturellen Probleme des Liberalismus sind langfristig angelegt und schon oft erforscht. Bekannt ist, dass sich diese altehrwürdige Richtung längst totgesiegt hat. Nichtliberale präsentieren sich gern als Freiheitliche. Alle geben sich liberal – wenigstens scheinbar. Wovon frühere Generationen nur träumen konnten, ein umfassendes Angebot an Konsumgütern und Dienstleistungen, mit wenigen Mausklicks zu erwerben, ist längst selbstverständlich. Sexuelle Präferenzen in beinahe allen Varianten werden seit geraumer Zeit geduldet. Freilich sind auch die Kehrseiten offenkundig: Der liberale Diskurs in den letzten zwei Jahrzehnten ist stark auf eine neoliberale Ausrichtung und auf den Markt verengt. Liberale sind stark, wenn das Gemeinwesen von mehr Kontinuität als von Diskontinuität geprägt ist, ein wenigstens relativer Fundamentalkonsens besteht, weitgehende soziale Harmonie und Optimismus herrscht, Ordnung und Normalität vorhanden sind und marktwirtschaftliches Denken dominiert.
Doch in den letzten Jahren machen sich verstärkt Konflikte in allen Staaten der westlichen Welt bemerkbar. Die Absichten des apertistischen Liberalismus rufen zunehmend Widerstände hervor. Darunter versteht man im Anschluss an den Soziologen Andreas Reckwitz eine Strömung, die neben dem Abbau von äußeren Handelsbarrieren innergesellschaftliche Schranken niederreißen will – zugunsten vermeintlich benachteiligter Gruppen wie Frauen, Homosexueller oder Migranten. Doch diese emanzipatorischen Bestrebungen offenbaren viele Nachteile. So konkurrieren oft sozial schwächere Schichten mit Einwanderern um Sozialbeihilfe, billigen Wohnraum und um Arbeitsplätze für Geringqualifizierte.
Die Klimadebatte hat in den letzten Jahren drastisch an Fahrt aufgenommen – und apokalyptische Dimensionen offenbart. Betroffenheit in großem Stil bestimmt die Debatte. Spätestens seit dem Auftreten eines jugendlich-bezopften Pippi Langstrumpf-Verschnitts, medial gehypt und mit mächtigen Nichtregierungsorganisationen im Hintergrund, ist zu erkennen, dass die Thematik des Klimawandels ersatzreligiöse Züge angenommen hat. Propheten ohne Sachkenntnis bestimmen maßgeblich die Kontroverse und wirken als Galionsfiguren für die „große Transformation“. Diese wird seit knapp einem Jahrzehnt ganz offiziell propagiert. 2011 präsentierte der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung/Globale Umweltveränderungen ein Papier, das unter der Ägide des Potsdamer Klimaforschers Hans Joachim Schellnhuber die Zivilisation dekarbonisieren, mithin also auf völlig neue Grundlagen stellen will. Die nationalen Parlamente sollen aufgrund der Dringlichkeit der Menschheitsrettung möglichst außen vor bleiben. Demokratie erscheint etlichen Warnern vor einem neuen Katastrophismus als altmodisch und schwerfällig. Schon jetzt wird offen über einen Klima-Rat debattiert, der alle Gesetze auf Klimaverträglichkeit hin prüft und bei etwaigen Einwänden ein Vetorecht geltend machen kann. Astronomisch sind die Summen, die so planwirtschaftlich wie nur möglich umverteilt werden sollen.
Nun ist die Klimadebatte komplex. Eine Legion von Fachleuten hat Einwände gegen die These vom ausschließlich menschengemachten Klimawandel vorgebracht. In sehr kleiner Auswahl sind die Namen Thüne, Svensmark, Vahrenholt, Lüning, Ganteför, Bennert, Dahm und Kutschera anzuführen. Die Verfechter des Hauptstroms versuchen in der Regel, die große Zahl von „Häretikern“, die sich den Dogmen der Klimakirche nicht anschließen, zu diskreditieren statt sich mit ihren Inhalten auseinanderzusetzen. Auch der Verfasser dieser Zeilen hat sich gelegentlich kritisch mit der Thematik beschäftigt (siehe hier).
Üblicherweise wird darauf hingewiesen, dass ein großer Teil der Experten nicht offen gegen die Lehre vom menschengemachten Klimawandel seine Stimme erhebt. Das hat natürlich verschiedene Gründe, nicht zuletzt finanzielle, aber auch den Gruppendruck. Wenn es aber so zahlreiche Einwände gibt, so sind diese sorgfältig zu prüfen – ungeachtet der Tatsache, dass auf beiden Seiten Spezialisten zu finden sind.
Lindner ist klug genug, die Gefahren für eine freiheitliche Weltanschauung wahrzunehmen. Vorsichtig wagte er Kritik an den Klimarettern. Greta Thunberg solle die Thematik Profis überlassen. Der daraufhin einsetzende Shitstorm artikulierte sich so heftig, dass er bald zurückruderte, obwohl die Aussage kaum strittig sein dürfte.
Katastrophen- und Ausnahmesituationen waren zu allen Zeiten schlechte Phasen für Liberale. Zwar können die Corona-Einschränkungen schwerlich als Ausnahmezustand im staatsrechtlichen Sinn gedeutet werden, aber zumindest gilt der Lockdown als gefühlte Exzeption in Teilen der Bevölkerung. In solchen Lagen ist immer die Exekutive am Zug. Souveränität wird großgeschrieben. Der bekannte Staatsrechtslehrer und Liberalismus-Gegner Carl Schmitt hat zu Beginn seiner klassischen Schrift „Politische Theologie“ den Grundakkord angeschlagen: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, heute trifft vielleicht eher zu: Wer sich über Anordnungen hinwegsetzen kann, wie eine Gruppe von islamischen Gläubigen in Berlin während des Shutdowns, darf als mächtig gelten. Schmitt fordert Dezision. Den Liberalen unterstellt er, nur zu debattieren.
Doch Schmitts bedeutende Einlassungen stammen aus der Zeit vor 1949. Wer die Geschichte der Bundesrepublik überblickt, weiß, dass für deren politische Kultur Endlosdiskurse, das Zerreden aller Probleme, zu den Charakteristika zählen. Nicht zufällig ist der Hohepriester des Diskurses, Jürgen Habermas, der wichtigste deutsche Denker seit Jahrzehnten. Der Ausnahmezustand blieb hingegen ein Stiefkind der bundesrepublikanischen Staatsrechtslehre.
Während des Lockdowns wurden die Grundrechte in einem Maße eingeschränkt, das noch vor einem halben Jahr für unmöglich gehalten worden wäre. Selbst eher konservative Staatsrechtslehrer, von Hans-Jürgen Papier über Christian Hillgruber bis Dietrich Murswiek, gaben zu Protokoll, dass viele Maßnahmen unverhältnismäßig seien. Man könne nicht der gesamten Bevölkerung, so der Tenor, Beschränkungen auferlegen, wenn es möglich sei, Risikogruppen auf freiwilliger Basis zu isolieren. Es ist naheliegend, dass Lindner bereits früh die Aufhebung der Einschränkungen anmahnte. Er drang damit aber nicht durch, weil existenzielle Bedrohungen – wie verhüllt auch immer – autoritärem Agieren einen Anstrich von Legitimität verschafft. Die Masse goutiert fast umstandslos, wie Umfragen zeigen. Dabei ist öfters herausgestellt worden, wie groß die Gefahren sind, nach einem Sieg über das Virus „einen Ausnahmezustand als ein normales Paradigma des Regierens zu verwenden“, so der italienische Gelehrte Giorgio Agamben im Februar 2020.
Immerhin sind mittlerweile Einsichten in die Grenzen der Globalisierung Gemeingut. Vor allem den Abbruch von Lieferketten erkannte man als Gefahr. Immerhin setzte sich die Vorstellung durch, dass lebensnotwendige Güter im nationalen wie regionalen Kontext herzustellen seien – und nicht einfach in außereuropäische Gegenden ausgelagert werden können, will man die Bevölkerung nicht über alle Maße gefährden.
Es wäre ein Wunder gewesen, hätte nicht der gegenwärtig heftigste Opponent der offenen Gesellschaft seine Stunde in diesem Frühjahr schlagen gehört: Der im Westen weithin verhasste Wiedergänger von Thomas Manns genialer Gestalt des „Naphta“ im „Zauberberg“, der kremlnahe russische Politologe Alexander Dugin, hat bereits am Beginn weltweiter Anticorona-Maßnahmen einen Artikel veröffentlicht, der die globalistischen Kräfte als todbringend darstellt und die „Seuchengötter“ lobt. Letztere hätten stets in der Geschichte einen Neuanfang bewirkt. Die „offene Gesellschaft“ sieht er reif für die Infektion. Jeder, der Grenzen niederreißen wolle, bereite den Boden für die totale Auslöschung der Menschheit. Diese Sicht mag sehr überspitzt sein. Ein Körnchen Wahrheit steckt auch in einer solchen Perspektive.
Professor Dr. Felix Dirsch lehrt Politische Theorie und Philosophie. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von „Nation, Europa, Christenheit“ und „Rechtes Christentum„. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.
2012 erschien sein Buch „Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens““.
Bilder: Sandro Halank, Wikimedia Commons, CC BY-SA 4.0/Pixabay/geändert/Boris Reitschuster