Moderner Pranger und liberale Selbstgeißelung

Auf Twitter war dieses Wochenende Thüringens Kurzzeit-Ministerpräsident Thomas Kemmerich eines der am meisten diskutierten Themen. Weil der Liberale auf einer Corona-Demonstration gemeinsam mit AfD-Leuten gesichtet worden war, herrschte in dem zu nicht geringen Teilen von Linken dominierten Netzwerk wie so oft Nazi-Alarm. Die Empörung war riesig. Und man bekam fast schon Mitleid mit vielen Twitterern, die offenbar lieber hyperventilierten, als das schöne Wochenend-Wetter und die Corona-Erleichterungen zum Genießen des Sonnenschein und der sommerlichen Temperaturen zu nutzen. Aber wozu genießen, wenn man sich auch aufregen kann?

Der Tenor, den man beim Blick nicht nur auf twitter, sondern auch auf viele Medien vermittelt bekam: Kemmerich habe – wieder einmal –gemeinsame Sache mit der AfD gemacht. Also in der neudeutschen, schwarz-weißen und linken Medien-Denke sich erneut als „Nazi“ entpuppt. Prompt distanzierten sich ebenso hastig wie reihum Parteifreunde des Liberalen. Und auch Parteichef Christian Lindner rutschte erneut barfuß vors Kanzleramt – wenn auch nur digital, in Form einer Distanzierung von seinem Parteifreund. Der arme Chef-Liberale kommt aus dem Büßergewand gar nicht mehr raus – wie schade um all die Sonnenstudio-Bräune. So massiv wurde der Druck, dass sich auch der Ketzer selbst, also Kemmerich, von seinem sündigen Verhalten lossagte. Das Prozedere ist faszinierend. Es erinnert ein wenig an eine Zeitreise; Im Mittelalter müssen bei der Hexenverfolgung und beim Anprangern ähnliche Mechanismen zumindest mitgewirkt haben.

Was war aber wirklich passiert, dass die Gemüter so hoch kochten? “Ich habe die Dynamik bei der Veranstaltung unterschätz”, räumte Kemmerich in einer Zoom-Videokonferenz ein. Er habe zunächst auf die Abstandsregeln geachtet und auch Mundschutz getragen, nach dem offiziellen Teil aber die Schutzregeln vernachlässigt. “Ich bedauere das sehr”, so die Entschuldigung des Kurzzeit-Ministerpräsidenten.

Alleiniger Veranstalter und Anmelder der Demo in Gera war nicht etwa die NSDAP oder deren Wiedergeburt in den Augen vieler Medien und Politiker, also die AfD, sondern Peter Schmidt: Der ist kein stadtbekannter Nazi, sondern Mitglied des Wirtschaftsrates der CDU. Und der habe ihn gebeten, so Kemmerich, auch “ein paar Worte zu sprechen”. Die große Mehrheit der Teilnehmer seien Bürger gewesen, die sich Sorgen machen, wie es weitergeht, wenn jetzt die Lockerungen greifen, und die sich vor allem Sorgen um ihre berufliche Existenz machen, so Kemmerich. Als Unternehmer sind ihm diese Sorgen vielleicht näher als so manchem Kader-Politiker, der nie ein Berufsleben außerhalb der Politik hatte. Leider hätten sich auch Verschwörungstheoretiker und AfD-Politiker unter die Teilnehmer gemischt, so der Liberale. Von dieser Seite kamen wohl auch die Buh-Rufe während seiner Rede.

Kemmerich betonte erneut, er habe “nichts mit der AfD zu tun“ und werde mit ihr „auch in Zukunft nichts zu tun haben”. Rückwirkend betrachtet sei die Teilnahme wohl “ein Fehler”.

Der Publizist Klaus Kelle kommentierte die Causa Kemmering auf thüringenjetzt wie folgt: „In der Video-Pressekonferenz ging es fast ausschließlich um die Anwesenheit von AfDlern in Gera. Welche Sorgen die Menschen in diesen Wochen plagen, wurde nicht erörtert. In Thüringen haben 25 Prozent der Wähler AfD gewählt und 30 Prozent die Linke, die auch den Ministerpräsidenten stellt, obwohl Ramelow von den Bürgern abgewählt wurde. Gut wenn man eine Unterstützerin im Kanzleramt hat. Aber: Dürfen bürgerliche Politiker von CDU oder FDP nicht mehr an Veranstaltungen teilnehmen, wenn im Publikum AfD-Unterstützer sind? Dann werden die Terminkalender thüringischer Politiker nach Corona so leer bleiben, wie sie in den vergangenen Wochen schon waren.“

Tatsächlich zeigen sich viele Medien dieser Tage sehr bemüht, die Demonstrationen als eine Ansammlung von Verschwörungstheoretikern und „Rechtspopulisten“ darzustellen. In Wirklichkeit scheint die Bandbreite der Unzufriedenen dabei aber weitaus größer zu sein.

Die „Welt“ zitiert die Volksbühne, die die Proteste pauschal als „rechts“ diffamiert. Der Chefredakteur der „Welt am Sonntag“ Johannes Boie erklärt unter der Überschrift „Verschwörungstheoretiker sind keine harmlosen Spinner“, der Koch Attila Hildmann sei ein Fall für die Polizei und den Psychiater. Tatsächlich macht Hildmann, den als Gastwirt die Krise wohl hart traf, einen verwirrten Eindruck und redet schwer verdaulichen Unsinn. Aber wirr daherreden ist keine Straftat. In einer Demokratie ist das jedermanns Recht, solange er dabei kein Gesetz bricht. Das unterscheidet freie Systeme von Diktaturen. Und normalerweise rufen nur in Letzteren Journalisten nach Polizisten und Psychiatern im Umgang mit Leuten, die gegen die Regierung protestieren und dabei vielen verrückt erscheinen.


Bild: Wikimedia Commons

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