Nach Corona-Erfahrungen: Wissenschaftler machen gegen politischen Einfluss mobil Warum die Unabhängigkeit des RKI zentral ist für das Vertrauen in die Wissenschaft

In den letzten Jahren hat die Unabhängigkeit wissenschaftlicher Institutionen, insbesondere des Robert Koch-Instituts (RKI), zunehmend Fragen aufgeworfen. Als nationale Instanz im Bereich „Public Health“ (öffentliche Gesundheit) trägt das RKI entscheidend zur Gesundheitsforschung und -politik bei. Doch Berichte über politische Einflussnahmen auf wissenschaftliche Empfehlungen werfen ernsthafte Zweifel an der Einhaltung der Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis auf. Fünf Professoren fordern eine öffentliche Diskussion und Stellungnahmen zu diesen wichtigen Fragen – hier ihr offener Brief.

An deutsche Behörden und Organisationen,
die Verantwortung in der Corona-Krise trugen

Aufruf zur öffentlichen Diskussion und Bitte um Stellungnahme

Sehr geehrte Damen und Herren,

wir sind eine Gruppe von Chemie- und Physik-Hochschulprofessoren, die, wie alle anderen Wissenschaftler auch, den Grundsätzen der guten wissenschaftlichen Praxis verpflichtet sind, vor diesem Hintergrund jedoch die Entwicklungen der letzten Jahre am Robert Koch-Institut (RKI) mit Sorge beobachten.

Auf seiner Homepage fasst das RKI seine Forschungsagenda zusammen: „Das Robert Koch-Institut ist das nationale Public-Health-Institut und trägt wesentlich zum Gesundheitsschutz in Deutschland bei. Seine Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten und bewerten gesundheitliche Trends und Risiken in der Bevölkerung. Darauf basierend erstellen sie Empfehlungen und Handlungsvorschläge für die Politik und verschiedene Akteure im Gesundheitswesen. Auf diese Weise trägt das Institut dazu bei, gesundheitliche Krisen zu meistern – oder bestenfalls ganz zu verhindern.“ Alle Beschäftigten des RKI sind „verpflichtet, sich im Rahmen ihrer Tätigkeit an die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis zu halten“. Dazu gehört es u.a. „lege artis zu arbeiten“ sowie „Resultate zu dokumentieren und alle Ergebnisse konsequent selbst anzuzweifeln“. Gleichzeitig ist das RKI dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG) gegenüber weisungsgebunden.

Im Rahmen der Corona-Krise ist es nun tatsächlich zu Weisungen des BMG gekommen, die die veröffentlichte wissenschaftliche Einschätzung und sich daraus ergebende Empfehlungen und Handlungsvorschläge auf unwissenschaftliche Art und Weise (nicht lege artis) beeinflusst haben, wie es in den sogenannten RKI-Protokollen dokumentiert ist und wir es in einem Artikel in der Berliner Zeitung vom 23.09.2024 zum Ausdruck gebracht haben.

Wir haben den Bundesgesundheitsminister gefragt, wie viele Mitarbeiter aufgrund dieses eklatanten Verstoßes gegen die eigenen Regeln des RKI remonstriert haben. Wir haben vom Minister eine Antwort erhalten, die jedoch keine Informationen zu den Remonstrationen am RKI enthalten hat. Zwischenzeitlich wurde allerdings auf eine schriftliche Anfrage aus dem Bundestag vom Parlamentarischen Staatssekretär Prof. Edgar Franke mitgeteilt, dass es in den Jahren 2018 bis zur Anfrage im November 2024 im RKI keine Remonstrationen gegeben hat.

Wir fragen uns nun, was der Grund dafür ist, dass kein Mitarbeiter des RKI remonstriert hat. Könnte es sein, dass sich die Wissenschaftler nicht in der Lage gesehen haben, sich dem Druck aus der Politik zu erwehren, ohne die Arbeitsstelle und damit die eigene Lebensgrundlage zu gefährden? Als Wissenschaftler sahen sie sich wohl in einem unauflösbaren Konflikt: Denn was wiegt stärker, die Verpflichtung sich an die Grundsätze guter wissenschaftlicher Praxis zu halten oder den Weisungen des Ministeriums nachzugeben? Die rechtliche Klärung dieser Frage wäre sicher interessant, allerdings ist uns wichtiger zu fragen, ob es nicht sinnvoll wäre, diesen Zwiespalt durch die Trennung der wissenschaftlichen Arbeit des RKI von einer nachgelagerten politischen Einordnung/Berücksichtigung der Ergebnisse aufzulösen.

Kann es also überhaupt zielführend sein, einer Einrichtung, die den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis verpflichtet ist, die Aufgabe zu geben, Empfehlungen und Handlungsvorschläge für die Politik zu erarbeiten und zu publizieren, wenn diese Empfehlungen und Handlungsvorschläge vor der Veröffentlichung durch Weisungen der Regierung manipuliert werden können?

Die so veröffentlichten wissenschaftlichen Einschätzungen des RKI wurden regelmäßig nicht nur zur Legitimierung tagespolitischer Verlautbarungen und Entscheidungen, sondern auch als absoluter Goldstandard in Begründungen von Anklagen und Urteilen durch Staatsanwaltschaften und Gerichte verwendet.

Muss also eine Behörde wie das RKI nicht völlig unabhängig von der Politik und insbesondere von einer amtierenden Regierung in der Lage sein, Empfehlungen und Handlungsvorschläge ausschließlich auf Grundlage der eigenen wissenschaftlichen Beurteilung zu veröffentlichen? Diese Empfehlungen und Handlungsvorschläge können dann von der Regierung unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen gewürdigt und entsprechend beachtet oder verworfen werden.

Ist eine solche Unabhängigkeit nicht Voraussetzung für eine Behörde, um den Grundsätzen guter wissenschaftlicher Praxis genügen zu können? Gefährdet die Weisungsbindung an politische Entscheidungsträger einer öffentlich als wissenschaftlich arbeitend wahrgenommenen Behörde nicht nur das Vertrauen in diese Behörde, sondern darüber hinaus auch die Glaubwürdigkeit der Wissenschaft als solche? Verhindert die Weisungsgebundenheit eine objektive Herangehensweise, und ist dies nicht Grundlage für die gute wissenschaftliche Praxis? Wäre es nicht besser, wenn Behörden wie das RKI zukünftig weisungsungebunden arbeiten und publizieren?

Wir denken, dass die aufgeworfenen Fragen Grundlage für eine breite öffentliche Diskussion sein sollten, und würden uns freuen, wenn die hier angeschriebenen Organisationen dazu Stellung nehmen würden. Wir freuen uns auf den wissenschaftlichen Austausch.

Mit freundlichen Grüßen

Im Namen der Unterzeichner

Unterzeichner:

Prof. Dr. Jörg Matysik, Analytische Chemie, Universität Leipzig (Kontakt);

Prof. Dr. Gerald Dyker, Organische Chemie, Ruhr-Universität Bochum;

Prof. Dr. Andreas Schnepf, Anorganische Chemie, Universität Tübingen;

Prof. Dr. Tobias Unruh, Physik, FAU Erlangen-Nürnberg;

Prof. Dr. Martin Winkler, Materials and Process Engineering, Zürcher Hochschule der angewandten Wissenschaften

 

Mit Bitte um Stellungnahme an:

Bundesministerium für Bildung und Forschung

Alle Fraktionen und Gruppen des Deutschen Bundestags

Deutsche Forschungsgemeinschaft

Deutscher Hochschulverband

Hochschulrektorenkonferenz

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina

Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren

Leibniz-Gemeinschaft

Fraunhofer-Gesellschaft

Netzwerk Wissenschaftsfreiheit

Paul-Ehrlich-Institut

Robert-Koch-Institut

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