Ein Gastbeitrag von Josef Kraus
Man fasst sich an den Kopf – einen Kopf, den man in diesem öffentlich-rechtlich-medial-volkspädagogisch erzogenen Untertanenvolk ja eigentlich gar nicht mehr bemühen darf. Und dann die Mega-Überraschung: „Die Kanzlerin hat die Debatte freigegeben“, meldet das heute-journal. „Man“ darf also jetzt – vermutlich für eine kurze Zeit, ehe auch die CDU einschwenkt – darüber reden, ob der Begriff „Rasse“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden soll.
Bislang steht dort in Artikel 3 (3): „Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
„Grüne“, FDP, SPD, Linke, „Anti-Rassisten“, „Antifas“ und sonstige Aktivist:_*:Innen wollen die Streichung von „Rasse“. Diese Absicht erinnert an Kulturen, die meinen, mit bestimmten Sprachtabus würden auch bestimmte Probleme oder gar Geister gebannt. Das wäre wie die Einbildung, mit einer Streichung des gesamten Strafgesetzbuches würde es zukünftig keine Straftaten mehr geben.
Wahrscheinlich ist die Streichung des Begriffs „Rasse“ nur ein erster Schritt zu einer Streichkonzert-Orgie, die sich hier anbahnt. Demnächst wird man wohl diskutieren dürfen, ob nicht auch die Begriffe „Geschlecht“ oder „Religion“ oder „Sprache“ oder „Volk“ oder „Heimat“ oder „Behinderung“ oder „deutsch“ aus dem Grundgesetz gestrichen werden sollen. Immerhin gibt es ja „schon länger hier Lebende“ und „neu Hinzugekommene“, die sich keinem Geschlecht und keiner Religion und keiner (schon gar nicht der deutschen) Sprache und keinem „Volk“ zuordnen und schon gar nicht deutsch sein wollen. Und auch Behinderte gibt es nach der Diktion mancher Leute nicht, weil die Unterscheidung zwischen „vermeintlich Nicht-Behinderten“ und „vermeintlich Behinderten“ obsolet sei.
Was das Geschlecht betrifft, hat der Rot-Rot-Grüne-Senat Berlin ja in seinem jüngsten Antidiskriminierungsgesetz (LADG, § 3, vom 12. Juni 2020) über das Grundgesetz hinaus bereits den Madonnenschutzmantel ausgebreitet: „Kein Mensch darf im Rahmen öffentlich-rechtlichen Handelns aufgrund des Geschlechts, der ethnischen Herkunft, einer rassistischen Zuschreibung, der Religion und Weltanschauung, einer Behinderung, einer chronischen Erkrankung, des Lebensalters, der Sprache, der sexuellen und geschlechtlichen Identität sowie des sozialen Status diskriminiert werden.“ Aha, neben realem „Geschlecht“ geht es auch um gefühltes Geschlecht qua „sexuelle und geschlechtliche Identität“.
Aber lassen wir das! Deutschlands Kanzlerin lässt eine Debatte zu – par ordre du mufti. (Am Rande: Ein Mufti ist ein islamischer Religionsgutachter.) Fehlt nur noch, dass sie sagt, diese Debatte sei „hilfreich“. Das riecht nach Revolution von oben! Purer Wahnsinn! Diese Freiheit verleiht Flügel! Sie beflügelt zum Beispiel die Erinnerung daran, dass ebendiese Kanzlerin ja schon einmal das Abstimmungsverhalten freigegeben hat, als es im Juni 2017 um die „Ehe für alle“ ging. Hier ließ sich die Kanzlerin gnädig herab, die „Ehe für alle“ zur Gewissensentscheidung zu erklären. Sie entschied also darüber, wann Artikel 38 des Grundgesetzes gilt und wann nicht: Die Abgeordneten des Bundestages sind – auch wenn der Fraktionszwang reale Praxis ist – an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen. Merkel aber dazu wörtlich samt Sprechpausen: „Ich möchte die Diskussion mehr in die Situation führen, dass wir … dass es … dass es eher in Richtung einer Gewissensentscheidung ist, als dass ich jetzt per Mehrheitsbeschluss irgendwas durchpauke“. Das sagte sie bei einer Veranstaltung der Frauenzeitschrift „Brigitte“ am 26. Juni 2017 im Maxim-Gorki-Theater in Berlin. Eine verfassungsrechtlich bedenkliche Aussage! Verräterisch vor allem das Wort „durchpauken“. Wendigkeit pur eben – außer sprachlich.
Aber ernsthaft wieder: „Die Kanzlerin hat die Debatte freigegeben.“ Ist sie mit einem Mal leichtsinnig oder gar anarcho-libertär geworden? Oder gibt sie nicht eher in George Orwells Sinn die „big-sister“. Zur Erinnerung: Die in Orwells 1984er Romanwelt vorkommenden Menschen müssen stets ein „Zwiedenken“ praktizieren: Sie sehen die Realität und müssen das Gegenteil glauben. Sie werden manipuliert durch ein stets aktualisiertes Wörterbuch der „Neusprache“. An diesem Verzeichnis bastelt der Sprachwissenschaftler Syme. Er sagt zur Hauptfigur des Romans, zu Winston Smith: „Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff … Wir merzen jeden Tag Worte aus … Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite der Gedanken zu verkürzen? … Es ist lediglich eine Frage der Wirklichkeitskontrolle. … Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist … Es wird überhaupt kein Denken mehr geben … Strenggläubigkeit bedeutet: nicht mehr denken – nicht mehr zu denken brauchen. Strenggläubigkeit ist Unkenntnis.“ An anderer Stelle wird Winston Smith, in der Nähe des allgegenwärtigen „big-brother-Televisors“ stehend, beschrieben: „Er hatte die ruhige optimistische Miene aufgesetzt, die zur Schau zu tragen ratsam war.“ Politisch korrekte Mimik sogar!
Folge ist dort – aber auch hier und heute: Wer nicht politisch korrekt denkt und spricht, wer im Orwellschen Sinn ein „Gedankenverbrecher“ ist, wird zur Zielscheibe der „Gedankenpolizei“, er wird der „Herrschaft des Verdachts“ (Hegel), vor allem des Faschismus- und Rassismusverdachts unterstellt, oder er wird im Sinne des „big brother“ „vaporisiert“, verdampft, das heißt, er findet in der Meinungsbildung nicht mehr statt. Deswegen hat der Archivar Winston Smith in George Orwells „1984“ die Aufgabe, Geschichte ständig umzuschreiben, damit sie sich den jeweils aktuellen politischen Wünschen fügt. In „1984“ mit einem Ministerium für Wahrheit, das schön zweideutig mit „MINIWAHR“ abgekürzt wird.
Zum Schluss eine Denkaufgabe für den Leser: Ersetzen Sie mal bestimmte Namen und Begriffe durch „Kanzlerin“ oder „Kanzleramt“; Sie werden zwischen Lachkrampf und Tobsuchtsanfall hin und her oszillieren. Oder gleich nach Nordkorea auswandern. Dort sind die Verhältnisse immerhin noch ein wenig eindeutiger und ein bisschen weniger verschwurbelt.
Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)