Russki Extrem in Tallinn

 

 

Wie eine „Hilfsaktion“ eines russischen Freundes mir den Tag versaute und zum interkulturellen Desaster wurde…

 

 

Nach fast fünf Jahren ohne tägliches Russland bin ich naiv geworden. Und so habe ich nicht verstanden, dass ich selbst die Weichen zu meinem Unglück stellte, als ich, nach der Verleihung des Open-Russia-Journalistenpreises mitsamt Feier, mitten in der Nacht, meinen Freund , den bekannten Journalisten Igor Svinarenko im Hotel im mittelalterlichen Tallinn mit einem höflichen „Bis morgen“ verabschiedete. „9 Uhr beim Frühstück“, fragte er zurück. „9 Uhr? Bist Du verrückt? Wenn überhaupt, dann um 10 Uhr“, so meine Antwort – auch wenn Igor beschwört, es habe anders geklungen.

 

Es gehört zu den Mysterien der Länder der früheren Sowjetunion, dass man dort regelmäßig das Gefühl hat, ein Vorschlaghammer sei einem gegen die Stirn geschlagen, wenn in der Früh der Wecker klingelt. Als das Folterwerkzeug in Uhrform um 9.30 Uhr lautstark krakelte, hätte ich es am liebsten gegen die Wand geschmissen (und nun bitte keine bösen Vermutungen anhand des Bildes von Igor und mir, nein, die Mengen an estländischem Likör und Import-Wein am Vorabend hatten sich im Rahmen gehalten, zumindest für russische Verhältnisse und für eine Leber mit 16 Jahren Russlanderfahrung). Und so entschloss ich mich zu einem Nichtangriffspakt mit meinen geschundenen Organismus und einem damit einhergehenden Verzicht auf das Frühstück. Friedlich drehte ich mich um zum Weiterschlafen.

 

 

Als in gefühlter tiefster Nacht – es muss gegen 10.00 Uhr gewesen sein, das Telefon in meinem Zimmer dauerklingelte, versuchte ich, es zu überhören. Ebenso wie das heftige Klopfen an der Zimmertür kurz darauf. Dann erneutes Dauerklingeln. Ich gab auf: „Wach bist Du eh schon, dann  kannst Du auch noch schnell einen Happen essen, bevor das Frühstücksbuffet um 10.30 Uhr schließt.“ Kaum hatte ich die Hose angezogen, stand Igor vor mir. Und hinter ihm ein Hotelmitarbeiter, der ihm meine Zimmertür geöffnet hatte. „Dein Flugzeug geht, Dein Flugzeug, Du hast fast verschlafen“, sagte er mir, zwinkerte mit den Augen, und dankte dem Hotelmitarbeiter herzlich: „Sie haben seinen Flug gerettet!“ – „Was für ein Flug, der geht doch erst um…“ Igor unterbrach mich sofort und drehte sich um, ob der Mitarbeiter noch da war. Der Flug, den ich zu verpassen drohte, war offenbar sein „Sesam-öffne-Dich“ gewesen – denn nur wegen eines verpassten Frühstücks hätte man ihm wohl kaum meine Zimmertüre geöffnet.

 

 

Missmutig saß ich ihm beim Frühstück gegenüber, wo er mir bereits zwei Sektgläser aufgetischt hatte: „Hast Du alles mir zu verdanken, sonst wärst Du hungrig geblieben! Wo das Frühstück doch eh bezahlt ist“. – „Igor, Du bist ein Terrorist“, knurrte ich missmutig. 10.25 sprang ein weiterer Kollege herein, und überfiel „last minute“ das Buffet: „Siehst Du, das ist Dir erspart geblieben, Boris, dank mir konntest Du noch in Ruhe auflegen.“ – „Igor, ich lege gleich auf Dich was auf, wenn Du mich nochmal an Deinen Weckterror erinnerst!“. Der verspätete Kollege wirkte etwas bleich: „Was meint Ihr, ist der Champagner hier teuer? Wir haben gestern die Minibar gelehrt!“ – „50 Euro die Miniflasche“, antworte ich wie aus der Pistole geschossen – ganz die deutsche Spaßbremse.  Und 10.35 kam der nächste Kollege:  „Was, schon alles weg?“ Ich trete meine zwei Sektgläser ab, die mir Igor aufgetischt habe. „Siehst Du“, sagt Igor zu dem Verspäteten, „das wäre Boris fast auch passiert, wenn ich ihn nicht…“ – „mitten in der Nacht überfallen hätte“, unterbreche ich ihn. „Bist Du mir denn wirklich nicht dankbar“, fragt er mit treuherzigem Blick? Ich antworte mit einer alten, ebenso brutalen wie nicht ernst gemeinten russischen Redensart: „Was für den Russen gut ist, ist für den Deutschen der Tod.“ Ich habe jetzt jedenfalls gelernt, wozu die Verriegelung in Hotelzimmern gut ist – und werde künftig nicht mehr ohne sie einschlafen.

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