Wenn man ermessen will, wie stark die tektonische Plattenverschiebung im politischen Leben der Bundesrepublik ist, muss man nur an Holger Börner zurückdenken. Der Mann mit der Statur eines Bären war Bundesminister für Verkehr und später fast elf Jahre Hessischer Ministerpräsident. Der gelernte Betonfacharbeiter war ein Sozialdemokrat wie aus dem Bilderbuch, der mit der heutigen Parteispitze wohl kaum mehr gemeinsam haben dürfte, als ein Metzger mit dem Vegetarismus. Börner ist vor allem durch einen Satz über die Grünen in die Geschichte eingegangen: „Ich bedaure, daß es mir mein hohes Staatsamt verbietet, den Kerlen selbst eins in die Fresse zu hauen. Früher auf dem Bau hat man solche Dinge mit Dachlatten erledigt.“
Der 2006 verstorbene Börner würde wohl die heutige Bundesrepublik nicht mehr wieder erkennen. Die Grünen, die er, als sie noch in weiten Kreisen des politischen Establishments wie Aussätzige behandelt wurden wie heute die AfD, einst am liebsten mit physischer Gewalt „erledigt hätte“, sind heute nicht nur dabei, zum Sargnagel für die SPD zu werden. Es ist so weit gekommen, dass ausgerechnet sie Börners Sozialdemokraten ermahnen müssen, der FDP und CDU nicht abzusprechen, demokratische Parteien zu sein:
Wie leben in Zeiten, in denen in der ARD ganz offen zur antifaschistischen Einheitsfront aufgerufen wird – einem DDR-Begriff – und eine Landeschefin der in „Linke“ umbenannten SED vor einem Millionenpublikum im gleichen Sender behauptet, ihre Partei habe Demokratie vorgelebt, und die Christdemokratenh hätten keine demokratische Legitimation: „Die CDU als destruktive Kraft hat überhaupt nicht das Vermögen, über demokratische Strukturen zu reden und sie auch zu leben“.
Norbert Röttgen saß bei Anne Will direkt neben der Linken-Landeschefin, als sie diese ungeheuerliche, dreiste Aussage machte. Und wie reagierte er? Gar nicht. Er sah sie nur mit weit aufgerissenen Augen an – wie das Kaninchen die Schlange. Was für eine symbolkräftige Szene! Die CDU lässt sich von der „Linken“ jagen. Und findet nicht mal Worte, um sich zu verteidigen.
„,Bewusste Diffamierung´: Kramp-Karrenbauer kritisiert ,Schmutzkampagne´ der SPD und stellt die Koalitonsfrage“, schreibt heute die Frankfurter Allgemeine. Dabei hat sich die Union das selbst zuzuschreiben. Man muss es klar und deutlich sagen: FDP und CDU machen Männchen vor dem linksgrünen Zeitgeist, haben sich ihm in vorauseilendem Gehorsam unterworfen und politisch kapituliert – und nun wundern sie sich, dass sie überrollt werden, dass das Krokodil, das sie jahrelang fütterten, sie auffrisst. Ganz dramatisch ist die freiwillige Unterwerfung bei der FDP zu beobachten, die sich geradezu selbst geißelt seit Thüringen.
Christian Lindner outete sich nach der Hamburg-Wahl: Die FDP habe in der Hansestadt mit der AfD gestimmt – für „Einschränkung von Zigarettenkippen auf Straßen“. Lindner bereute öffentlich. Und versprach Läuterung: Eine gemeinsame Zigarettenkippen-Bekämpfung werde es nicht mehr geben. Bitter, dass eine einstmals stolze Partei so tief sinken kann.
Dass FDP und CDU, ja auch CSU dem linksgrünen Zeitgeist hinter her hecheln, statt eine Alternative aufzuzeigen, hat sehr viel mit dem Führungspersonal zu tun. Zum einen mit Angela Merkel, die diesen Prozess aktiv betrieb. Aber sie hätte das nie alleine machen können: Opportunismus, Feigheit und das Fehlen von Rückgrat und eigenen Positionen scheint in diesen Parteien, die sich einst durch mutige politische Kämpfer wie Konrad Adenauer und Franz-Josef-Strauß auszeichneten, heute Voraussetzungen für das Vorankommen in der Hierarchie zu sein.
Was wir erleben, ist dramatisch: Die feige Selbstverstümmelung der bürgerlichen Parteien betoniert endgültig die linksgrüne Hegemonie in Deutschland. Geradezu mit den Händen greifbar war das beim Auftritt von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak in der Berliner Runde nach der Hamburg-Wahl: Der Schrecken stand ihm ins Gesicht geschrieben – offenbar hatte er da verstanden, dass der Traum von „Schwarz-Grün“ geplatzt ist und der CDU ein Platz auf dem politischen Abstellgleis winkt. Ob ein Friedrich Merz, auf den nun viele hoffen, diesen Prozess noch einmal umkehren kann, ist mehr als zweifelhaft: Er hat bewiesen, dass er mehr Einknicker ist als ein Kämpfer, der so dringend benötigt würde.
Wenn kein Wunder geschieht, wird nach der SPD auch die CDU implodieren, und damit unser gesamtes Parteiensystems, wie das Frankreich und Italien bereits hinter sich haben. Die große Frage ist: Wird sich eine Kraft finden, die ihren früheren Platz einnimmt und das Vakuum zwischen den nach links gerückten etablierten Parteien und der AfD einnimmt? Dass die AfD die klare Abgrenzung von ihren radikalen Kräften schafft, wäre ebenfalls ein Wunder – und noch dazu eines, das, wenn es geschieht, die Medien wohl gänzlich ignorieren würden, weil ein Feindbild dringend zur Stabilisierung des Systems benötigt wird. Letztendlich könnte es sogar auf ein Verbot der AfD hinauslaufen. Dann würde nicht nur das Parteiensystem implodieren, sonder der gesellschaftlichen Frieden in unserem Land. Deshalb sollte sich niemand über das Sterben von Parteien, die er nicht mag, freuen. Diese Freude könnte uns allen im Halse stecken bleiben.
Bild: PIXABAY