Ein Gastbeitrag von Josef Kraus
Kaum ein Wort hat in den vergangenen Jahren eine solche Karriere hingelegt wie das Wort „Toleranz“. Es ist drauf und dran, den Wörtern „Gerechtigkeit“ und „sozial“ die Ränge abzulaufen. „Toleranz“, „Gerechtigkeit“ und „sozial“ – recht und schön. Gegen diese Wörter bzw. Prinzipien ist ja zunächst nichts zu sagen. Wer will keine sozial gerechte Welt, keine toleranten Gesellschaften? Das Problem ist nur, dass alle drei Wörter inflationär zu allen sich bietenden oder auch herbeigezerrten Gelegenheiten bemüht werden. Und wie es nun einmal bei einer Inflation ist: Das Objekt verliert seinen Gehalt, seinen Wert – bis es zum „Wieselwort“ geworden ist.
Warum „Wieselwort“? Es ist dies eine Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch, erstmals wohl 1916 verwendet als „weasel-word“ vom vormaligen US-Präsidenten Theodore Roosevelt (US-Präsident von 1901 – 1909), der damit die Politik seines Nach-Nachfolgers Thomas Woodrow Wilson (US-Präsident 1913 – 1921) attackierte. Der große Nationalökonom und Sozialphilosoph Friedrich August von Hayek (1899 – 1992) war dann derjenige, der den Begriff „Wieselwort“ erstmals 1988 und dann regelmäßig verwendete, um die inhaltliche Leere mancher Begriffe, zum Beispiel des Begriffs „sozial“, zu brandmarken. Das Wort spielt damit auf das kleine Raubtier Wiesel an, das aus einem Ei angeblich allen Inhalt heraussaugen kann, ohne dass man dies nachher der leeren Schale anmerkt.
Nun also „Toleranz“, wohin man schaut, was auch immer man liest und hört, obwohl das Wort „Toleranz“ nicht ein einziges Mal im Grundgesetz und auch nicht in den deutschen Länderverfassungen vorkommt: Toleranz ist angesagt. Es gilt, „Zeichen zu setzen für Toleranz und Vielfalt“, dazu gibt es Gratiskonzerte diverser Linksrock-Gröler „Gegen Intoleranz“. Toleranz ist angesagt gegenüber allem, was es gibt – außer es ist nicht-links: Toleranz gegenüber allen anderen Menschen und Hautfarben dieser Welt, gegenüber allen möglichen weltanschaulichen Überzeugungen, gegenüber Religionen bzw. Konfessionen (siehe die Toleranzedikte von 1781 in Österreich, 1847 In Preußen, 1869 im Norddeutschen Bund), gegenüber allen sexuellen Orientierungen. „Bündnisse für Toleranz“ werden gegründet, die Evangelische Akademie Tutzing vergibt einen „Toleranz-Preis“. Dazu kommt Fehlertoleranz in der Pädagogik: Auf dass ja kein Heranwachsender durch einen Hinweis auf einen Fehler, zum Beispiel einen Rechenfehler, eine traumatisierende „Mikroaggression“ erfahren könnte.
Aber all diese Toleranzen laufen hinaus auf die Toleranz eines „Nihilismus des Geltenlassens von schlechthin Allem“. So hat es Arnold Gehlen 1969 in seinem monumentalen Werk „Moral und Hypermoral“ beschrieben. Arnold Gehlen antwortete damit auf Herbert Marcuse, den Säulenheiligen der Achtundsechziger. Marcuse wollte unter anderem eine befreiende Toleranz der Gesellschaft gegenüber befreiter Sexualität. Sexualität müsse entsublimiert werden, denn eine Repression der Sexualität stütze Herrschaftsstrukturen. Heute nun wird im Stil der damals kritisierten repressiven Toleranz schier repressiv eine Toleranz für (fast) alles und alle eingefordert. Auch Hypertoleranz gegenüber Intoleranz. Aber es ist eine selektive Toleranz. Hauptsache, es geht – millionenschwer staatlich alimentiert – gegen rechts oder gegen das, was man sich als rechts ausdenkt. Zugleich werden Schaufenster-Nulltoleranzen aufgelegt, die ohnehin niemand mehr ernst nimmt: Nulltoleranz gegen Drogendealer im Görlitzer Park in Berlin; Nulltoleranz gegen Doping im Sport; Nulltoleranz gegen Vandalismus; Nulltoleranz gegen illegale Migration…
Ansonsten „kultursensible“ und „interkulturell kompetente“ Hypertoleranz allenthalben, vor allem wenn bestimmte Glaubenssätze und Praktiken islamischen bzw. muslimischen, oder kurz: nicht-deutscher bzw. nicht-europäischer Herkunft sind. Niemand möge sich doch bitte „islamophob“ aufregen über Kernbestände islamischer Kultur, als da schier fundamentalistischen Ursprungs sind: Mehrfachehen, Kinderehen, Scharia-Gerichte, Ehrenmorde, die Ideologie der Inferiorität von Frauen, drastische Strafen für Ehebruch, Homophobie, Antisemitismus, die Todesstrafe für eine Konversion zum Christentum, die Verklärung von Massenmördern als Märtyrer, die Einheit von Moschee und Staat… Zugleich Kotau über Kotau: Bilder von Schweinen verschwinden aus Schulbüchern, in Schul- und Betriebskantinen gibt es kein Schweinefleisch mehr. Während des Ramadans verzichtet man an manchen Schulen auf Prüfungen und Exkursionen, Schwimmbäder sind für bestimmte Zeiten nur für Burkiniträgerinnen geöffnet…
Alles im Namen von „Toleranz“. Hypertoleranz – gepaart mit grenzenloser Empathie – scheint zudem gegenüber bestimmten Tätern Pflicht zu sein. Im Täter-/Opfer-Ranking gibt es ohnehin Täter erster Klasse und Opfer erster Klasse, dementsprechend Opfer zweiter und Täter zweiter Klasse. Die einzigen, die keinerlei Toleranz erfahren dürfen, sind die DWEM (dead white european men, zum Beispiel Columbus oder Immanuel Kant) bzw. „PPPP“ (pale, patriarchal, penis people). In den USA wurden dafür der Begriff „White Guilt“ und der Kampf gegen „white privilege“ erfunden. Und natürlich ist alltäglich und volkspädagogisch Intoleranz gegen alles angesagt, was einen Millimeter rechts von Merkel, ARD, ZDF, „Spiegel“ oder „Süddeutscher“ ist.
Warum also Hypertoleranz, zumal der oder das zu Tolerierende sich nicht reziprok verhält, die entgegengebrachte Tolerhanz vielmehr als eine Toleranz der Schwäche auslegt? Ja, Hypertoleranz ist ein Zeichen von Schwäche, ein Symptom individueller Ich-Schwäche sowie kollektiver, kultureller, nationaler Wir-Identität. Hier gilt, so Nietzsche: „Übertriebene Toleranz ist ein Beweis des Misstrauens gegen das eigene Ideal.“ Oder einfacher ausgedrückt: Hypertoleranz ist ein Zeichen von Orientierungsverlust, ein Zeichen von Indifferentismus. Wenn nämlich alles „gleich gültig“ (auseinandergeschrieben) und gleichermaßen zu tolerieren ist, dann wird es über kurz oder lang „gleichgültig“ (zusammengeschrieben).
Derjenige, der tolerant zu sein hat oder es reflektiert sein will, kann und darf sich nicht immer nur zurückzunehmen. Er kann es höflich, aber bestimmt ablehnen, die Last („tolus“ = lateinisch Last) anderer Überzeugungen aktiv mitzutragen. Und zwar ohne jede Anbiederung. Jedenfalls ist es nichts als Anbiederung, wenn Kanzlerin Merkel in einem Anflug von Courage im Juli 2016 Muslime um Toleranz für den Schweinefleischkonsum der Deutschen bat.
Toleranz gedeiht nur auf eindeutig eingeforderter Gegenseitigkeit, nicht auf der Basis eines Kotaus vor einer Programmatik, die mit dem Grundgesetz und dem abendländischen Wertekosmos als Basis aller Bürger- und Menschenrechte nichts zu tun hat. Deshalb ist es schier abstrus, wenn die Afrikanische Union (AU) im Februar 2020 von der EU in Person der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen Toleranz für die Verfolgung von Homosexualität verlangt. Letztere steht nämlich in 34 von 54 afrikanischen Ländern unter Strafe, in Mauretanien, dem Sudan und Teilen Nigerias und Somalias droht sogar die Todesstrafe. In arabischen Ländern ohnehin! Wischiwaschi freilich die Antwort der EU-Kommissionspräsidentin: „Wir versuchen zu überzeugen, aber wir erkennen an, dass es unterschiedliche Positionen gibt.“ Und: Die EU dürfe von der AU nicht erwarten, dass sie sich anpasse. Hier wird nicht nur Diplomatie, sondern Toleranz zur Farce. Lebte Ralph Giordano noch, würde er so etwas als „Duckmäuserei“ tadeln.
Nein, wir brauchen einen Begriff von Toleranz, wie ihn die Medizin und die Technik kennen: als Toleranz innerhalb einer Bandbreite, weil etwa ein Patient Schaden nimmt, wenn seine Widerstandskraft erschöpft ist oder er ein Zuviel an Dosis bekommt; oder innerhalb eines technischen Systems, wenn die Überschreitung eines Spielraums zu Unfällen führt. Oder gewendet auf den nicht-medizinischen und nicht-technischen Bereich: Hypertoleranz wird schnell zum Trojanischen Pferd, das „Feinde“ im Sinne Poppers importiert. Karl Popper (1902 – 1994) hat auf diese Gefahr im Zusammenhang mit Totalitarismen hingewiesen. In seinem großen Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ schrieb er: Uneingeschränkte Toleranz führe zum Verschwinden der Toleranz. Das heißt: Dann wird Intoleranz zur Pflicht. Das hat mit Nichtduldung von Intoleranz zu tun. Begegnen sich nämlich Toleranz und Intoleranz, siegt immer die Intoleranz. Thomas Mann wird hier im „Zauberberg“ ganz deutlich: „Toleranz wird zum Verbrechen, wenn sie dem Bösen gilt.“
Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)
Bild: Pixabay