Übernachten im Gefrierfach Wie Igor mich zum Pinguin erklärte

Je trauriger die Zeiten, umso wichtiger der Humor. Nach diesem Motto habe ich vergangene Woche hier ein Experiment gewagt und eine meiner Alltagsgeschichten aus Russland veröffentlicht. Als kleine Notwehr gegen den gruseligen Nachrichten-Alltag. Um Ihnen ein wenig Anlass zum Lachen zu geben. Und ich selbst strahlte über das ganze Gesicht, dass es Ihnen gefiel, liebe Leserinnen und Leser, dieses „Alternativ-Angebot“ in Zeiten der vermeintlichen Alternativlosigkeit. Gerne entführe ich Sie heute wieder gemeinsam mit meinem Freund, Mentor und Fotograf Igor in das ebenso fremde wie faszinierende Russland:

Mein Gefrierfach ist sechs auf vier Meter groß, hat ein Queen-Size-Bett, eine marmorierte Nasszelle, eine Minibar und einen Farb-TV mit Erwachsenen-Filmen. Bei Einfach-Belegung liegt der Preis pro Nacht bei 110 Euro, Frühstück und Folterkammer in Form eines Fitnesscenters inklusive. Ein Hotelzimmer ist das und kein Eisfach, werden Sie nun sagen. Und ich würde Ihnen Recht geben. Aber meine Meinung zählt nicht so viel. Hier in Russland und vor allem bei Igor Gavrilov: offiziell unser Fotograf, aber eigentlich viel mehr mein Russland-Ratgeber, Landesführer und obendrein eine wandelnde Anekdoten-Sammlung.

Ich als abschreckendes Beispiel

„Das ist kein Hotelzimmer, das ist ein Gefrierfach“, sagt Igor und reibt sich die Hände, als er mich zum Frühstück abholt: „Du musst einen Pinguin unter deinen Vorfahren haben, sonst müsstest du jeden Morgen unter einem Föhn auftauen, wenn Du die Klimaanlage über Nacht so hochdrehst.“ Ich weiß nur zu gut, was jetzt folgen wird: Fast genauso wie das Fotografieren liebt es Igor, über die westliche Lebensart zu lästern – wobei ich den dankbaren Part des abschreckenden Beispiels gebe.

Wie Zusammenstöße von Heißluft und Kaltfront zu Gewittern führen, so gibt es verbale Donnerwetter, wenn die naturverbundene russische Seele auf westliche Dekadenz trifft. Wobei das natürlich Igors Variante ist. Ich spreche vom Aufprall westlicher Zivilisation auf vormoderne Landleben-Mentalität. Unparteiische Zuhörer drücken sich meist um ein Urteil und spotten salomonisch, wir gehörten beide auf den Balkon der Muppet-Show.

Igor Gavrilov in Aktion – am Strand des Schwarzen Meeres

Ich greife zu einer Nato-Strategie, die sich im Ost-West-Konflikt bewährt hat, der Vorwärtsverteidigung, und falle Igor deshalb sofort ins Wort: „Dass du bei der gleichen Temperatur so steif gefroren wie ein Fischstäbchen aufwachen würdest, liegt doch nur daran, dass sich bei euch in Russland die Heizungen nicht regulieren lassen und du deshalb einfach überhitzt bist wie ein Grillhähnchen.“

Beim Wort „Grillhähnchen“ vergisst Igor – ein wandelnder Pirogen-Friedhof – dass es ihn friert. Hitzig bringt er seinen blonden Bart – die Vorhut – in Wallung: „Ihr Westler seid einfach völlig denaturiert, für euch existiert die Natur nur noch im Fernsehen und hinter einbruchsicheren Glasscheiben.“

Igors Zorn ist verständlich. Dass wir in Sotschi, dem russischen Nizza, in einem ausländischen Hotel abgestiegen sind, hat er trotz seiner ausgeprägten Heimatliebe noch mit einem zufriedenen Lächeln registriert – wohl im Hinblick auf ein großes Frühstücksbuffet mit freier Auswahl und unbegrenztem Zugang, und optisch ansprechendes Personal.

Wie Hamster in Plexiglas-Terrarium

Dass sich dann aber im Radisson die Fenster nicht öffnen lassen, war für Igor wohl ein genauso schwerer Schlag wie für mich 1989 die erste Fahrt in einem russischen Eisenbahnwaggon vierter Klasser, die eher an einen Viehtransport erinnert als an modernes Reisen. Abgeschnitten von der Außenluft muss sich Igor vorkommen wie ein Hamster im Plexiglas-Terrarium. „Die feuchte Seeluft, das Vogelzwitschern, Hundebellen, alles fehlt, was das Leben schmackhaft macht“, klagt Igor und entflieht der Kälte Richtung Gang. „Du bist nicht hier, damit das Leben schmackhaft ist, sondern um zu arbeiten“, halte ich entgegen.

Igor tut so, als habe er den letzten Satz überhört und kontert urlaubstechnisch: „Ihr schwimmt lieber im Pool als im Meer, ihr Chlor-Plantscher“. Wir setzen eben auf Hygiene, halte ich gegen. „Das Chlor macht eure Augen und eure Haut kaputt – während ich im Meer zu den menschlichen Ursprüngen zurückkehre, und sei es in Form von Mikroben. Die sollen ruhig miteinander kämpfen in meinem Körper“, pariert Igor im Lift.

„Ihr trinkt Zuckerwasser ohne Zucker, mit künstlichem Süßstoff. Wenn ihr an einem anständigen Imbiss-Stand esst, wo das Menü an der Schürze des Kochs abzulesen ist, wo Leben in der Küche herrscht und das Essen noch nach Essen schmeckt und nicht nach Desinfektionsmittel, habt ihr danach eine Woche lang eine Magenverstimmung. Dafür seid ihr bei McDonalds so verzückt wie wir bei Tschaikowski! Ihr seid überzüchtet!“

Für ein gutes Foto greift Igor auch mal beherzt zu

Eigentlich müsste ich Igor Recht geben. Aber einfach so die weiße Fahne hissen? Das würde nur zu neuen Attacken führen. In meiner Not streue ich Salz in Igors Wunden. „Wir sind bescheiden und genügsam. Wir fahren mit der U-Bahn, auch wenn wir uns einen Mercedes leisten könnten.“ Man muss dazu sagen, dass für Igor die Vorstellung, U-Bahn zu fahren, ebenso erschreckend ist wie für mich der Gedanke, bei einer Obdachlosen-Speisung um eine Suppe anzustehen.

Wunder am Buffet

Und plötzlich geschieht ein Wunder, ich kann es selbst nicht glauben: Ich habe in unserem Streit das letzte Wort behalten. Gut, es liegt wohl nicht nur daran, dass ich Igor mit meinen Argumenten überzeugt habe. Wir sind nämlich im Frühstücksraum angekommen, und Igor ist augenblicklich in Richtung Büffet entschwunden. Vielleicht hat er meine letzten Worte auch gar nicht mehr gehört vor lauter Vorfreude. Sein Teller füllt sich schneller als jeder Schwamm.

Ich bin mir sicher (auch wenn Igor mich in dieser Minute nicht hören kann, weil er gerade die Wiener Würstchen auflädt), er wäre mit mir einverstanden, dass wir Westler zumindest in einer Sache den Russen etwas sinnvolles vorgemacht haben: mit der Erfindung von Frühstücksbüffets.

 

Igor der Panzerschreck – oder Abrüstung im Alleingang

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