Ein Gastbeitrag von Josef Kraus, Bildungs- und Bundeswehrexperte
Seit Tagen demonstrieren weltweit Millionen gegen Rassismus. Allein wenn man die Teilnehmerzahlen des vergangenen Wochenendes in deutschen Städten aufsummiert, kommt man auf Hunderttausende. Nachvollziehbar: Viele der Demonstranten wollen schlicht und einfach ihren Zorn, ja ihre Wut über das zum Ausdruck bringen, was sie zusammen mit Millionen anderen in einem 8 Minuten und 46 Sekunden dauernden Video gesehen haben: die brutale Festsetzung des am Boden liegenden farbigen George Floyd durch einen weißen Polizisten sowie Floyds letzte Worte „I can’t breathe“, bevor er das Bewusstsein verlor und unmittelbar danach starb.
Die Protestveranstaltungen sind etwas originär Demokratisches, wenn sie denn erstens friedlich verlaufen und wenn dabei – zweitens – die aktuellen „Corona“-Einschränkungen eingehalten werden. Beides ist nicht immer der Fall. Allein in der Heimatstadt Floyds verursachten radikale Demonstranten einen Sachschaden von 55 Millionen Dollar, weil sie Häuser angezündet hatten. Zudem gab es bei Krawallen in den USA eine noch nicht näher bezifferte Zahl an Toten und zahlreiche Plünderungen. Und auch in Deutschland gab es Angriffe auf Polizisten, auf dem Berliner „Alex“ wurden 28 Beamte verletzt. Ganz zu schweigen davon, dass die Abstandsregeln fast nirgendwo eingehalten wurden und allein von daher womöglich einer zweiten Corona-Welle Vorschub geleistet wurde.
Was in manchen westlichen Ländern und in Deutschland als legitime, ja durchaus ehrenwerte Solidaritätserklärung, als Trauerbekundung und als Sympathieakt für den am 25. Mai bei dem brutalen Polizeieinsatz in Minneapolis (Minnesota) getöteten Afroamerikaner George Floyd gedacht und geplant war, wurde mehr und mehr zu einer Selbstanklage und zu einem wohlfeilen, da politisch korrekten Bußritual der „weißen“ Rasse. Wenn es denn nach dem Willen vieler Medienleute, nicht weniger Politiker und zahlreicher NGOs geht. Diese Gesten nahmen ebenfalls ihren Ausgang in den USA. In Cary (North Carolina) wuschen weiße Polizisten einem schwarzen Pastor und einer schwarzen Pastorin als Akt der Bitte um Verzeihung die Füße. Zahlreiche Polizisten knieten sich mit Demonstranten auf offener Straße für die Dauer des auf Video gebannten Sterbens von Floyd nieder. Kongress-Abgeordnete der Demokraten taten es ihnen während der Beerdigung Floyds nach. Kanadas Premier Trudeau imitierte diese Geste ebenfalls spektakulär. In London wurde eine Statue Winston Churchills verunstaltet, weil er Rassist gewesen sei.
In Deutschland spricht sich alles, was politisch, medial und wissenschaftlich Rang und Namen hat oder angeblich hat, für einen Kampf gegen Rassismus aus. Merkel, Söder, Maas, Özdemir usw. usw. Die SPD-Co-Vorsitzende Esken bekennt sich zur „Antifa“, weil diese ja anti-rassistisch sei. Die „Zeitung für Deutschland“ namens FAZ belobigt die Anti-Rassismus-Demonstrationen als „Wohltat“ (FAZ vom 7. Juni), nachdem sie den Corona-Protestlern noch kurz zuvor (am 10. Mai) ein „Brett vor dem Kopf“ attestiert hatte. Und allüberall wittert man Rassismus, ja „rassistische Strukturen“ und „strukturellen Rassismus“: in Behörden, bei der Bundeswehr, bei der Polizei…
Da ist er also wieder, der westliche Masochismus. Er hat namhafte Väter. Aus der Sicht von Jean Paul Sartre (1905 – 1980) habe sich der Europäer nur dadurch zum Menschen machen können, dass er Sklaven und Monstren hervorbrachte. Solche Betrachtungsweisen gehen durch alle Kreise von Intellektuellen. Gemein ist ihnen fast allen der Hass auf die westliche Moderne und die Parteinahme für die Feinde des „weißen“ Westens.
Unterlegt ist all dies mit einem permanenten Schuldkomplex. „Die ganze Welt hasst uns, und wir haben es verdient: Dies ist die feste Überzeugung der meisten Europäer, zumindest im Westen.“ Diesen provokanten Satz schreibt der französische Philosoph Pascal Bruckner in seinem 2008 auf deutsch erschienenen Buch „Der Schuldkomplex – Vom Nutzen und Nachteil der Geschichte für Europa“. (Die französische Originalausgabe ist 2006 übrigens anders überschrieben, nämlich mit „La tyrannie de la pénitance. Essay sur le masochisme occidental“; auf deutsch also: „Die Tyrannei der Buße. Essay über den westlichen Masochismus“.)
Eine weitere Aussage aus Pascal Bruckners Buch macht es noch deutlicher, auch wenn Bruckner hier von Europa spricht; er hätte auch von der „weißen Rasse“ sprechen können: Die Paradoxie des ewig sich schuldig fühlenden Europa bestehe darin, dass es genauso arrogant sei wie das einstige imperiale Europa, da es sich auf kindische Weise rühme, für alle Leiden der Menschheit verantwortlich zu sein. Europa, so Bruckner, sei geprägt von der „Eitelkeit des Selbsthasses“. Mit anderen Worten: Die „weiße“ Rasse pflegt einen eitlen, hypermoralischen Selbsthass.
In Anlehnung an den Begriff „Autoaggression“ (Aggression gegen sich selbst, als dramatische Folge endend im Selbst-„Mord“) kann man das als „Autorassismus“ bezeichnen: als Rassismus gegen die eigene (weiße) Rasse. Nur ist damit bei den tatsächlichen oder vermeintlichen Opfern der „weißen Rassisten“ nichts gewonnen. Denn wer wird schon geachtet, der sich selbst nicht achtet. Ansonsten scheinen Bußrituale eine privilegierte Pflicht der „Weißen“ sein zu müssen. Oder hat sich schon einmal ein führender Vertreter etwa aus dem arabischen Kulturraum bußfertig auf den Boden gekniet, wenn Landsleute und fanatisierte Glaubensbrüder Tausende (siehe Nine-Eleven) oder Hunderte (siehe Frankreich und Spanien) oder Zig Menschen (siehe Breitscheidplatz) ermordeten oder wenn „Schutzsuchende“ eine Mia oder eine Maria oder eine Susanna ….. oder …. oder … missbrauchten und danach ermordeten?
Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl)
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