Alle Menschen sind gleich, so lautete das Prinzip im Sozialismus. Einige Menschen waren dabei aber gleicher, wie es spätestens seit George Orwells Roman „Die Farm der Tiere“ auch den Menschen im Westen klar wurde. Von einem Sozialismus wie zu Zeiten von DDR und Sowjetunion sind wir weit entfernt. Viele Besonderheiten der damaligen Systeme sind aber zumindest in Ansätzen wieder deutlich zu erkennen. Dazu gehört auch eine gewisse Ungleichbehandlung.
Das wurde jetzt auch wieder deutlich bei einem Besuch des Bundesgesundheitsministers in Nordrhein-Westfalen. Bevorzugt behandelt wurden da potentielle CDU-Wähler, die eine Wahlkampfveranstaltung der Partei besuchten. Ein Leser schrieb mir dazu: „Bitte machen Sie doch einen Artikel über diese Jens–Spahn–Veranstaltung am 14.08.2020 in Rheine (NRW). Wie kann eine vornehmlich anfällige Altersgruppe ohne Masken, ohne besonders grosse Abstände den glorreichen Worten unseres Gesundheitsministers lauschen, ohne Angst zu haben, dass das fünf Meter weit springende/fliegende Coronavirus sie infiziert?! Und unsere Kinder müssen in NRW stundenlang eine Maske aufsetzten? Das ist hier nicht mehr die Bundesrepublik sondern eine linke Bananenrepublik…“
Nun kann ich als Laie nicht beurteilen, ob Viren hüpfen oder springen (ich dachte immer, sie sind keine Lebewesen und können weder das eine noch das andere). Ich habe auch zu wenig Erfahrung mit Bananenrepubliken, um unser Land zielsicher verorten zu können in dieser Kategorie. Was ich aber etwas einschätzen kann, sind die Hygiene-Vorschriften, die heute in unserem Land gelten. Die Mindestabstände, und die Pflicht zu Masken. Weil die nicht eingehalten wurden, löste die Polizei am 1. August die Demonstration von Corona-Maßnahmen-Gegnern in Berlin auf. Wie groß war damals die Aufregung in Deutschland! Politiker und Journalisten überschlugen sich vor Empörung. Allen voran SPD-Chefin Saskia Esken, die von „Covidioten“ sprach. Von Verantwortungslosigkeit war die Rede, gar von fahrlässiger Körperverletzung.
Und dann das! Im Angesicht des Gralshüters der Corona-Bekämpfung, Jens Spahn, werden ausgerechnet von der Risikogruppe die Regeln missachtet – und niemand scheint es zu kümmern. Die Lokalzeitung „MV Online“ berichtete über den Besuch mit der Schlagzeile: „Staatstragendes auf dem Marktplatz – Bundesgesundheitsminister Jens Spahn macht auch in Rheine Wahlkampf für die CDU“. Ich habe mir extra einen Zugang gekauft, um den Beitrag hinter einer Bezahlschranke lesen zu können. Das Geld hat sich gelohnt. Denn ich konnte kaum glauben, was ich da las: „‘Jetzt muss ich erst einmal die Maske aufsetzen‘, achtete er (Spahn) schon beim Eintreffen auf politische Korrektheit, als sich die ersten Parteifreunde zum persönliche Begrüßungs-Tete-a-tete näherten.“
Weiter steht da: „Nachdem er sich zunächst mit gebührendem Hygiene-Abstand unter das Volk gemischt und die persönlichen Gespräche gesucht hatte, ergriff er nach einer guten Viertelstunde – anmoderiert vom CDU-Stadtunions-Vorsitzenden Fabian Lenz – das Mikrofon und äußerte sich in meist staatstragendem Ton zum bisherigen Verlauf der Pandemie, bei der ‘wir noch mittendrin sind‘, so Spahn.“
Was für eine Realsatire, was für eine journalistische „Glanzleistung“: Auf dem Foto zum Beitrag ist zu sehen, wie die Hygiene-Regeln massiv verletzt werden, direkt vor den Augen des Ministers – und ein paar Zentimeter weiter steht, dass er warnt, wir seien mitten in der Pandemie, und wie vorbildlich er die Hygiene-Regeln einhielt.
Laut Google News ist in keinem Medium ein kritischer Bericht zu dem Auftritt und den Hygiene-Verstößen zu finden. Dafür wurde FDP-Chef Lindner im Mai landesweit an den Pranger gestellt, als er in einem Restaurant einen Bekannten umarmte. Lindner ist nicht Gesundheitsminister. Aber offenbar werden an den Oppositionspolitiker von den Journalisten strengere Maßstäbe angelegt in Sachen Hygiene, als an den, der in der Regierung sitzt und für die Corona-Maßnahmen verantwortlich ist.
Man könnte laut lachen, wenn es nicht so traurig wäre.
PS: Während Spahn in der Presse gelobt wird, wurde in Rathenau ein Schulleiter suspendiert, weil er die Maskenpflicht für seine Kinder nicht durchsetzte.
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Bild: Facebook/twitterScreenshotsText: br