Ein Blick zurück – die wichtigsten Beiträge aus dem Jahr 2020. Hier vom Juli:
Ein Gastbeitrag von Ekaterina Quehl.
Schon in meiner Kindheit haben mir meine Eltern gesagt, dass ich nicht alles glauben darf, was ich in der Zeitung lese. Ich hätte nicht gedacht, dass 30 Jahre später im fernen Deutschland das wieder so aktuell sein würde. Aber alles der Reihe nach…
Die Berichterstattung der letzten Wochen beeindruckt mich immer mehr mit ihrem Bemühen, Aufregung und Panik wegen der Corona-Pandemie zu verbreiten. Die Skandale um die Fleischfabriken Tönnies und Wiesenhof, um Corona-Ausbrüche in Kindergärten und Outdoor-Partys in Berlin sollen uns offenbar immer daran erinnern, dass die Pandemie nicht vorbei ist, dass sie schrecklich ist und dass wir uns nur dann schützen können, wenn wir ganz brav unsere Masken tragen, unseren Urlaub zuhause verbringen und unser gesellschaftliches Leben am besten auf ein Minimum beschränken.
Manipulation und Framing sind in der heutigen Medienlandschaft die Instrumente schlechthin, um Panik zu verbreiten und Angst zu schüren. Leider hat man sich daran schon gewöhnt. Aber die Dreistigkeit, mit der die Ereignisse des letzten Wochenendes am Ballermann auf Mallorca verdreht, ja verfälscht, werden – und das gerade von den Öffentlich-Rechtlichen – könnte sogar die Prawda-Berichterstattung in der Sowjetunion meiner Kindheit übertreffen. Und je mehr ich mich in das Thema vertiefte, umso mehr Unglaublicheres förderte ich zu Tage.
Nachdem fast alle deutsche Mainstream-Medien empört darüber berichteten, wie Hunderte Urlauber aus Deutschland auf Ballermann Partys am vergangenen Wochenende feierten, ohne sich an Abstandsregeln und Maskenpflicht zu halten, reagierte die balearische Landesregierung mit der zweimonatigen Schließung sämtlicher Lokale auf der Partymeile Ballermann und der Einführung harter Strafen bei Verstoß gegen geltende Verbote. Das Medien-Echo ist aktuell so stark und so negativ, dass selbst Stimmen der Urlauber überhört werden. Dabei berichteten einige, dass es anders abgelaufen sei und dass die Fotos, die Medien veröffentlichen, möglicherweise nicht aus diesem Jahr kommen. „Zig Kamerateams seien dort in den vergangenen Tagen unterwegs gewesen. Sie seien gezielt auf Menschengruppen zugegangen und hätten diese gebeten, sich aufzustellen und die Arme hochzureißen“, zitiert die Vorwürfe eines 38-jährigen Urlaubers die kreiszeitung.de.
Dass es möglicherweise anders abgelaufen sein kann, ist vorstellbar, dachte ich. Aber dass in der Berichterstattung Fotos nicht aus diesem Jahr verwendet werden, das konnte ich mir nicht vorstellen.
Selbst das Foto eines aktuellen Artikels in der Augsburger Allgemeinen, das ein Leser von reitschuster.de aus der Region schickte, ist noch nicht die Spitze des Eisbergs von dem, worauf ich während meiner Recherche gestoßen bin. Aber eins nach dem anderen.
Auf dem Bild zum Zeitungs-Artikel sind einige junge Männer zu sehen, die auf einer Straße sitzen und offensichtlich aus den in der Mitte stehen Eimern mit Strohhalmen (Alkohol?) trinken. Weder halten sie die Abstandsregeln ein noch tragen sie den Mundschutz. Der Leser, der das Foto schickte, schrieb, dass das Foto wahrscheinlich nicht aus dem Jahr 2020 stammt, weil es schon seit einigen Jahren verboten sei, auf Stränden und Boulevards aus Eimern zu trinken. Zudem seien die Haarschnitte der Männer nicht mehr modern – der Leser ist vom Fach und kann das einschätzen, denn er ist Friseur. Ein Leser fand nach Veröffentlichung dieses Beitrags hier heraus, dass das Foto tatsächlich schon 2013 verwendet wurde – siehe PS unten.
Das ist ja ein Ding, dass so mit Fotos manipuliert wird, dachte ich mir und stieß beim weiteren Recherchieren selbst auf ein Foto, das ich in mehreren Medien gesehen hatte. Auf dem Foto sind einige Männer zu sehen, die zum Fotografierenden mit dem Rücken gewandt sind. Zwei sind angezogen, zwei halb nackt. In einer offensichtlichen Feier-Stimmung stehen sie sehr eng aneinander, einer hält seine Arme angehoben. Im Vordergrund sind mehrere lange Strohhalme zu sehen.
Wäre das Foto aktuell, so könnte man das als Bestätigung der Berichte über das aktuelle „Party-Desaster“ auf dem Ballermann sehen und die Empörung der Medien verstehen.
Leider stammt das Foto aber mindestens aus dem Jahr 2019. Um die Bestätigung dafür zu finden, habe ich nicht mal eine halbe Stunde gebraucht. Doch selbst das ist noch nicht der beeindruckendste Fund. Dass tagesschau.de sich selbst verraten hat, ist das, was mich in der ganzen Geschichte vom Hocker gerissen hat.
Auf den beiden Screenshots unten ist nämlich zu sehen, wie tagesschau.de das oben beschriebene Bild in zwei Berichten verwendet. Beide Berichte sind über Mallorca-Partys. Doch einer stammt aus Dezember 2019, also noch lange vor der Corona-Pandemie. „Mallorca kämpft gegen „Ballermannisierung““ heißt dort der Artikel vom 11.12.2019.
Im Bericht vom 11.07.2020 „Unmut über feiernde Mallorca-Urlauber“ verwendet tagesschau.de exakt das selbe Bild wie im Bericht vom 11.12.2019. In dem Bericht heißt es: „Hunderte deutsche Touristen sollen laut Medienberichten in der Nacht zu Samstag auf Mallorca gefeiert haben – ohne sich an geltende Corona-Regeln zu halten.“
Für wen halten Sie Ihre Leser, liebe Berichterstatter der tagesschau.de, um sie mit derartigen Bild-Manipulationen in die Irre zu führen?
Das Foto, das mindestens aus dem Jahr 2019 stammt, verwenden aber auch andere Medien, etwa der General-Anzeiger im Artikel „Ballermann-Party ohne Masken und Abstand schockiert Mallorca“ vom 11.7.2020 (siehe auch oben) und nordbayern.de im Artikel „Mallorca schockiert: Deutsche Party-Urlauber pfeifen auf Corona-Maßnahmen“ vom 11.07.2020.
Interessanterweise verwendet auch die Stuttgarter Zeitung dieses Foto in ihrem Bericht über Mallorca. Und der stammt sogar aus den Zeiten der Corona-Pandemie, aber leider aus dem April 2020, also noch lange vor dem vergangenen Wochenende.
Auch der Focus führt seine Leser in die Irre:
Beindruckend finde ich ebenfalls die Versuche der Medien, die Authentizität der Berichterstattung mit unterschiedlichen Maßnahmen zu bestätigen. So unternimmt etwa die Zeit in ihrem Artikel „Verschwörungstheorien am Ballermann“ vom 17.7.2020 den Versuch, möglichen Zweifel an der authentischen Berichterstattung über Partys auf Mallorca am vergangenen Wochenende aus dem Weg zu räumen. Der Autor des Artikels wagt dabei sogar einen Vergleich mit den Krawallen in Stuttgart: „Hartnäckig hält sich daher auch das Verschwörungsgerücht, die enthemmten junge Leute hätten ihre Corona-Party-Randale – mehr Modell Stuttgart als Ischgl – erst begonnen, nachdem professionelle Kamerateams sie dazu angeregt hätten.“ Inzwischen wurden auch Deutsche befragt, was sie von der Schließung der Party-Lokale auf Mallorca halten. 63% halten laut einer Umfrage des Instituts Yougov die Schließung für „angemessen“ und noch weitere 14% für „eher angemessen“.
Die Dreistigkeit, mir der Medien einfach falsche Fotos nehmen und nicht so berichten, wie es tatsächlich abgelaufen ist, ist erstaunlich. Vor allem wenn man bedenkt, dass solche Berichterstattung die Grundlage ist, auf der wichtige Entscheidungen auf Regierungsebene mehrerer Länder getroffen werden. Und ich frage mich, welche Einschränkungen diese Regierungen noch einführen können. Zusätzlich zu den schon bestehenden Verboten der spanischen Regierung, die wahrscheinlich verheerende Folgen für die Wirtschaft haben werden, der Ankündigung möglicher Kontrollmaßnahmen seitens des deutschen Gesundheitsministers Spahn, etwa die Einführung der zweiwöchigen Quarantäne für die Mallorca-Rückkehrer.
Dass Berichterstattung in Deutschland in den letzten Jahren, und besonders in den letzten Monaten, einen massiven Wandel erlebt, ist mir schon längst aufgefallen. Aber dass dieser Wandel schon so weit vollbracht ist, dass die Nähe zur sowjetischen Prawda für mich nicht mehr zu übersehen ist und dass ich den Rat meiner Eltern, den ich am Anfang des Artikels erwähnt habe, im heutigen (noch) demokratischen Deutschland verstärkt befolgen soll, hätte ich nicht gedacht.
Ich weiß, dass Redaktionen aktuelle Berichte öfter mit Archiv- oder Symbolbildern illustrieren. Und das ist natürlich in Ordnung, so lange es nicht relevant ist und darauf hingewiesen wird, dass die Bilder nicht aktuell oder symbolisch sind. Ohne diesen Hinweis, und auf die Weise, wie in diesem Fall, ist die Verwendung solcher alten Bilder aber nichts anderes als eine Manipulation. Sogar eine dreiste.
Nachtrag:
Ein Kommentar von einem Leser auf twitter/reitschuster.de möchte ich gern noch als Nachtrag einfügen. Der Leser kommentiert meinen Beitrag wie folgt:
„Bin aus Mallorca zurück + schockiert. Wie die Medien #ard#zdf (tw. ohne Eigenrecherche) … ein zweistündiges! Fehlverhalten von wenigen Dummen, an EINEM Tag, aufbauschen, mit verfälschten/alten Bildern versehen und #Sensationsjournalismus betreiben ist unglaublich.“
Ein anderer Leser auf twitter/reitschuster.de hat einen Hinweis zum Spiegel-Artikel gepostet „Mallorca verbietet Trinkgelage vorm Ballermann“ vom 01.07.2013, in dem das gleiche Foto verwendet wird, das der Leser als screenshot der Augsburger Allgemeine (siehe oben) an reitschuster.de geschickt hat.
Ekaterina Quehl ist gebürtige St. Petersburgerin, russische Jüdin, und lebt seit über 15 Jahren in Berlin. Pioniergruß, Schuluniform und Samisdat-Bücher gehörten zu ihrem Leben wie Perestroika und Lebensmittelmarken. Ihre Affinität zur deutschen Sprache hat sie bereits als Schulkind entwickelt. Aus dieser heraus weigert sie sich hartnäckig, zu gendern. Mit 27 kam sie nach einem abgeschlossenen Informatik-Studium aus privaten Gründen nach Berlin und arbeitete nach ihrem zweiten Studienabschluss viele Jahre als Übersetzerin, aber auch als Grafik-Designerin. Mittlerweile arbeitet sie für reitschuster.de und studiert nebenberuflich Design und Journalismus.
Bild: privat, Screenshots von tagesschau.de, nordbayern.de, stuttgarter-zeitung.de, m.ga-online.de, spiegel.de