Es ist ein Treppenwitz der Geschichte, der heute von den meisten verdrängt wird, und an den zu erinnern fast schon Blasphemie ist: Ausgerechnet das Corona-Virus hat Angela Merkel gerettet. Politisch. Auch wenn man sich heute kaum noch daran zu erinnern wagt: Im Februar galten ihre Tage als gezählt. Der Bundesparteitag der CDU war für April angesetzt. Vielen galt Merkels Erz-Rivale Friedrich Merz als Favorit. Mit einem neuen Vorsitzenden wäre auch die Frage der Kanzlerkandidatur wohl schon längst entschieden. So aber blieb die von Merkel installierte und faktisch auch wieder abgesägte Platz-Warmhalterin Annegret Kramp-Karrenbauer weiter im Amt – mit noch weniger Einfluss als zuvor. Spätestens mit ihrer Einmischung in Thüringen bei der Ministerpräsidentenwahl im Februar hatte Merkel klargemacht, wer in der CDU wirklich die Hosen anhat – offizieller Vorsitz hin oder her.
Nun hätte der Auftakt zur Epoche nach Merkel im Dezember kommen sollen. Wieder mit einem CDU-Parteitag. Und wieder half Corona der Kanzlerin aus der Patsche. Eigentlich hätte nichts gegen einen virtuellen Parteitag gesprochen. Auch die CSU hat ihren so abgehalten. Doch virtuell kann weniger gemauschelt werden, es können keine schnellen Absprachen hinter den Kulissen erfolgen. Ein Parteitag via Internet hat fast schon Anflüge von Basisdemokratie. Und vermutlich genau deshalb kämpfte Friedrich Merz so sehr dafür – weil er wohl der Nutznießer gewesen wäre. Merkel und ihr Getreuer Laschet wussten das zu verhindern. Wieder war Corona zur Stelle. Laut Medienberichten war sogar extra noch im Oktober das Gesetz geändert worden, so dass die CDU nicht mehr verpflichtet ist, in diesem Jahr noch einen Parteitag abzuhalten – nach alter Rechtslage wäre dies zwingend gewesen.
Und jetzt die Preisfrage: Wird Corona Merkel auch die Kanzlerschaft über die angeblich letzte, vierte Amtszeit hinausretten? Muss im Zweifelsfall auch im Frühjahr der Parteitag und/oder eine Nominierungs-Veranstaltung wieder coronabedingt verschoben werden? Ich halte das inzwischen für gut möglich. Bereits im Juli hatte ein merkwürdiger Versprecher Merkels aufhorchen lassen – er klang so, als wolle sie sich eine Hintertür ins Kanzleramt offenhalten (siehe hier).
Man kann es drehen und wenden wie man will: Das Virus hat Merkels politisches Überleben gerettet und ihr neuen Atem eingehaucht. Umso erstaunlicher, wie stark dieses Thema tabuisiert wird. Ich hatte bereits im April dazu einer der größten und bekanntesten US-amerikanischen Zeitungen einen Artikel angeboten, den der zuständige Redakteur (m/w/d) auch sofort bestellte. Erschienen ist er nie. Und eine Begründung für das Nicht-Erscheinen gab es auch nie. Offenbar war das Thema nicht genehm. Weil er wenig an Aktualität eingebüßt hat, hier mein Beitrag vom April, der den amerikanischen Lesern vorenthalten blieb:
Merkel sei politisch so gut wie tot, glauben noch im Februar viele. Nicht nur, weil die Kanzlerin im vergangenen Jahr offensichtlich gesundheitlich angeschlagen war und ihre Zitteranfälle für Schlagzeilen sorgten. Nachdem die 65-jährige Physikerin im Bundesland Thüringen ganz offen eine Revision der Wahl des liberal-bürgerlichen, von der rechten AfD mit gewählten Ministerpräsidenten gefordert hatte und ihre Christdemokraten dort dafür den Kandidaten der Post-Kommunisten an die Macht brachten, war der Unmut in der eigenen Partei groß. Merkels „Kronprinzessin“ Annegret Kramp-Karrenbauer musste ihren Rückzug von der Parteispitze ankündigen. Viel sprach dafür, dass Merkels schärfster Rivale, der konservative Friedrich Merz, bei dem für Ende April anberaumten CDU-Parteitag neuer Chef der Christdemokraten würde. Merkel war angezählt wie ein Boxer nach vielen harten Schlägen.
Doch die Corona-Krise hat das Blatt für die Kanzlerin gewendet: Die Zustimmungswerte sind so hoch wie noch nie. Nach einer Umfrage der öffentlich-rechtlichen ARD kam die Bundesregierung im April auf 63 Prozent Zustimmung – gegenüber nur 35 Prozent im März und Werten zwischen 31 und 36 Prozent in den Monaten bevor. „Das Virus hat sie gerettet“, schreibt die Schriftstellerin Sonja Margolina. Tatsächlich hüllte sich die Kanzlerin noch Anfang März lange in Schweigen, als ihre ausländischen Kollegen bereits sehr aktiv waren in Sachen Corona-Bekämpfung. Sie überließ die Bühne weitgehend ihrem Gesundheitsminister Spahn, der die Gefahr noch im Februar als überschaubar bezeichnet und vor Panik gewarnt hatte. Deutschland begann spät mit Maßnahmen und hat heute die viertmeisten Corona-Fälle weltweit.
Bei ihrer ersten größeren Pressekonferenz zum Thema kicherte und scherzte die Kanzlerin mehrfach – was ihr aber offenbar ein Großteil der Deutschen verzieh. Zu groß scheint in dem Land, das schon immer für ein großes Vertrauen zur Obrigkeit bekannt war, in der Krise die Sehnsucht nach strammer Führung und Einigkeit. Erstaunlich ist, wie die vielen Fehleinschätzungen der Bundesregierung und der Mangel an Schutzausrüstung in Deutschland regelrecht abprallen vom Image der Kanzlerin. Hier kam ihr auch zugute, dass sie sich im Wesentlichen aus der Tagespolitik zurückgezogen hatte – und damit auch wenig Angriffsfläche bot.
Einer der Gründe für ihre neue Beliebtheit ist wohl, dass die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland Fehler in Sachen Corona vorzugweise in anderen Ländern kritisieren – gleichzeitig aus dem eigenen Land im Wesentlichen aber weitgehend nur Positives berichten. So konstatierte etwa der Medienwissenschaftler Otfried Jarren gegenüber der Nachrichtenagentur epd eine „gleichförmige Corona-Berichterstattung“. Er sprach von „Systemjournalismus“; eine der ARD-Anstalten, der NDR, falle ihm durch eine „besondere Form der Hofberichterstattung“ auf. Journalisten kritisieren, dass Medien in Deutschland den „verlängerten Arm der Regierung spielten“.
Neben der loyalen Medienberichterstattung hat auch der Ausfall der Opposition zu Merkels Wiedergeburt in der Krise beigetragen. Die rechte AfD kritisiert sie zwar, wird aber von vielen nicht ernst genommen und ihre Kritik kaum in den Medien wiedergegeben. Die Grünen, die Ex-Kommunisten und die Liberalen scheinen sich dagegen teilweise geradezu in Lob für die Regierung zu überschlagen.
Insofern offenbart Corona nicht nur Probleme im deutschen Gesundheitswesen – wo Kliniken die Bevölkerung um die Spende von Folien und Einweg-Regenmäntel bitten, um sich dadurch dringend benötigte, fehlende Schutzkleidung zu basteln, sondern auch eklatante Mängel im Grundverständnis von Demokratie. Während etwa Donald Trump von den Medien und von seinen politischen Gegnern auch in Zeiten der Krise attackiert wird und dies in den USA selbstverständlich ist, muss in Deutschland heute jeder, der Merkel kritisiert, damit rechnen, als vaterlandsloser Geselle hingestellt zu werden. Böse Zungen fühlen sich gar an eine Aussage von Kaiser Wilhelm II erinnert, der 1914 beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs mahnte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Liberalen-Chef Christian Lindner sagte in einem seiner wenigen kritischen Momente, Merkel, die den Spitznamen „Mutti“ hat, spreche mit den Menschen wie mit Kindern. Vielleicht kommt gerade das so gut an? Obwohl es eher typisch für sozialistische Regierungen ist.
So groß ist der Merkel-Hype, dass Bild, die größte Zeitung im Land, gar schon von Plänen für eine fünfte Amtszeit der Kanzlerin berichtete – die diese bisher immer hartnäckig dementierte. „Selbst harte Kritiker in der Union geben intern zu: Sie macht einen guten Job. Nüchtern, erfahren und mit allen Akteuren im In- und Ausland vertraut“, schreibt das Boulevard-Blatt und zitiert einen namentlich nicht genannten CDU-Mann, der angeblich „viele Kämpfe mit Merkel ausgefochten“ hat: „Ich bin heilfroh, dass wir sie haben“. Sogar ihr ärgster Widersacher Merz, zwischenzeitlich selbst an Corona erkrankt, schwärmt plötzlich von ihr und sagt, sie mache ihre Sache gut.
Im Kanzleramt wurden die Pläne für eine fünfte Amtszeit zwar dementiert – doch das Dementi klang eher pflichtschuldig. Im Bundestag wird inzwischen auch von Plänen gemunkelt, die laufende Legislatur-Periode um ein Jahr zu verlängern – bis 2022. Insofern spricht viel dafür, dass ausgerechnet das Virus, das so vielen Menschen den Tod bringt, der ewigen Kanzlerin in Deutschland ein neues politisches Leben eingehaucht hat.
Einen Wermutstropfen allerdings gibt es. Merkels Konkurrent von der konservativen Schwesterpartei CSU, der Ministerpräsident von Bayern Markus Söder, wird von vielen als noch deutlich besserer Krisenmanager angesehen als die Kanzlerin. Seine aktuellen Zustimmungswerte erinnern fast an Werte aus dem Kommunismus: 94 Prozent. Gleichzeitig hat sich Merkels Wunschkandidat für die Nachfolge, der Nordrhein-Westfälische Ministerpräsident Armin Laschet, in der Krise eher blamiert – etwa, als er öffentlich mit einer falsch angezogenen, nur unter die Nase reichenden Schutzmaske auftrat.
Nun hat ausgerechnet der konservative Bayer die besseren Chancen, Merkel zu beerben, als ihr eher linker Wunschnachfolger: 27 Prozent wünschen sich Söder, nur acht Laschet. Das könnte für Merkel ein Grund mehr sein, noch eine fünfte Amtszeit hinten anzuhängen – aber für Söder und die Konservativen eine hohe Motivation, die 65-Jährige rechtzeitig in den Ruhestand zu schicken.
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Text: br