Ein Gastbeitrag von Prof. Felix Dirsch
Kein Satz aus der langen Kanzlerschaft Angela Merkels wird so in Erinnerung bleiben wie das Mantra „Wir schaffen das“. Obwohl die Einwanderung schon in den Monaten vorher überdurchschnittlich hoch war, traf viele die Grenzöffnung (oder verhinderte Grenzschließung) vom 4. auf den 5. September wie ein Schock. Die Erlaubnis, Migranten, die in Ungarn festsaßen, einreisen zu lassen, hatte große symbolische Bedeutung, wie zuvor schon die Entscheidung des Bundesamtes, für syrische Flüchtlinge die Schengener Prozeduren auszusetzen. Man kann darin in der Konsequenz einen versteckten Aufruf zur illegalen Masseneinreise erblicken. Viele haben den Fingerzeig sehr wohl verstanden und sich auf den Weg gemacht. „Selfie“-Merkel, obwohl kinderlos und als eher kalte Machttechnokratin bekannt, hat sich bemüht, auch als „Mama“ der Mühseligen einen Platz in den Geschichtsbüchern zu erheischen. Dazu passt gut, wenn Kundige herausgefunden haben, dass mit der legendären Parole die Kinderfigur „Bob der Baumeister“ zitiert wird.
Schon im September 2015 haben viele Kommentatoren in diesen Ereignissen eine Zäsur gesehen. Der Kontroll- und Steuerungsverlust des Staates (und nicht nur des deutschen) war zwar schon vorher zu bemerken, nirgendwo wurde er aber stärker manifest als in diesen Spätsommertagen. Der infantile Zug des Geschehens, Jahre vor den FFF-Aktionen, konnte dem aufmerksamen Beobachter nicht verborgen bleiben. An größeren Bahnhöfen standen willkommenskulturell Besoffene und verteilten an die Ankommenden Teddybären. Ein Lehrbuchbeispiel für Gesinnungsethik, die auf die Folgen des eigenen Tuns nicht achtet!
Schon bald nachdem die Phrase aus dem Kanzleramt zum geflügelten Wort geworden ist, kamen die ersten Nachfragen: Wer ist „wir“ und was heißt „das“? Wenngleich die Durchhalteparole für Interpretationen bewusst offengehalten ist – man hat sie ja aus dem Zusammenhang eines längeren Statements der Kanzlerin gerissen – ist sie doch nicht schwer zu deuten: „Wir“ sind im Merkelsprech die „länger hier Lebenden“, die den Scherbenhaufen aufzukehren haben. „Das“ ist die kürzest mögliche Umschreibung jener Mammutaufgabe, die man etwas verniedlichend als „Integration“ beschreibt – ein Vorgang, der bei zwei Millionen Zugewanderten seit 2015 (fast alle über sichere Drittstaaten) rund 200 Milliarden Euro an Steuergeldern verschlungen haben dürfte, so etliche Schätzungen. Man muss von einer bevorstehenden jahrzehntelangen Schadensminimierungsaufgabe sprechen, die nur mehr oder weniger gelingen kann. Die Asylindustrie jubelt über den warmen finanziellen Regen und über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für die nächsten Jahrzehnte, an anderer Stelle wiederum fehlt das Geld. Das stört jene nicht, denen das Schicksal des eigenen Volkes an einem bestimmten Körperteil vorbeigeht und für die eher die Weltrettung das dominierende Motiv für politisches Agieren darstellt. Nirgendwo blühte Merkel so sehr auf wie bei ihrer Rede vor der UN 2019, als sie für das Klimapaket geworben hatte.
Manch einer mag sich ob solcher edlen Motive an die eigene Brust schlagen und das Unrecht der Vorfahren als endgültig gesühnt betrachten. Ein weiterer Sieg über Adolf Hitler! Dessen „langer Schatten“, vor Jahrzehnten von Arno Plack wirkmächtig beschrieben, kann man noch im Umschwung des Pendels vom einstigen extremen Nationalismus hin zum heutigen, den ganzen Globus beglückenden Humanitarismus wahrnehmen. Juristisch gesehen ist das „Wir schaffen das“ aber eher als Ausdruck jener „Herrschaft des Unrechts“ zu begreifen, die der Staatsrechtslehrer Ulrich Vosgerau in seiner gleichnamigen Studie beschrieben hat. Plagiiert und popularisiert hat diese Wendung ein bekannter bayerischer Spitzenpolitiker. Dieser hat jedoch zu wenig bedacht, dass es nicht gut bei der Bevölkerung ankommt, wenn man einen Rechtsbruch benennt, aber nichts dagegen unternimmt. Seine Chefin will angesichts der vielen bedürftigen Fremden ein freundliches Gesicht zeigen. Wenn dies andere Deutschen nicht tun wollten, sei dies nicht mehr ihr Land, so verkündete sie vollmundig.
Seit den Vorfällen vor fünf Jahren kommen die Debatten darüber nicht mehr zur Ruhe. Von den namhaften Juristen hat ein Großteil die Rechtswidrigkeit der Flüchtlingspolitik moniert. In kleiner Auswahl ist auf Hans-Jürgen Papier, Udo di Fabio, Friedrich Kirchhof, Karl-Albrecht Schachtschneider, Christian Hillgruber, Christoph Grabenwarter und Rupert Scholz zu verweisen. Dem ehernen „Kampf ums Recht“ (Rudolf von Jhering) ist es geschuldet, dass auch die andere Seite fachkundige Fürsprecher vorweisen kann, etwa Andreas Voßkohle und Christoph Möllers. In der Tat überlagern sich auf komplizierte Weise Staat- und Europarecht. Merkel erwies sich als getreue Schülerin des ansonsten verpönten Staatsrechtslehrers Carl Schmitt: Sie und ihre Entourage stellten die politische Entscheidung über alle rechtlichen Erwägungen. Die führende Frau Europas zerschlug als Dezisionistin den gordischen Knoten unterschiedlicher Rechtsinterpretationen. Ihr Handeln wird durch eine berühmte Hobbes’sche Sentenz gut beschrieben: Die Autorität („auctoritas“) ist es demnach, die die Politik gestaltet und nicht eine Instanz („veritas“), die die Gesetze richtig auslegt.
Verheerende Bilanz
Das Bildungsniveau wird wohl weiter sinken. Daran ändern auch einzelne Erfolgsmeldungen wie der jüngst herumgereichte afghanische Überflieger mit einem Abiturdurchschnitt von 0,8 nichts. Bekanntlich sagt der Einzelfall nichts über die Gesamttendenz, und weiter ist bei solchen Ergebnissen auch das abgesenkte Leistungsniveau bei schulischen und akademischen Prüfungen zu berücksichtigen. Damit sollen dem jungen Mann seine hohen Begabungen nicht abgesprochen werden.
Katastrophal ist darüber hinaus die Schleifung des Rechtstaats. Die zusätzlichen Straftaten können kaum beziffert werden. Praktiker aus der Justiz wie der Verwaltungsjurist Jens Gnisa („Das Ende der Gerechtigkeit“) und aus der täglichen Polizeiarbeit wie die gebürtige Griechin und Oberkommissarin Tania Kambouri („Im Blaulicht“) haben ihre Erfahrungen zu Papier gebracht. Justiz und Polizeivollzug sind bei der Erledigung ihrer Aufgaben oft überfordert. Maria Ladenburger aus Freiburg und Mia aus Kandel könnten noch leben, hätte die politische Führung nicht komplett versagt. Eine fröhliche multikulturelle Party- und Krawallszene gäbe es nicht, die Alltagskriminalität wäre geringer. Die Zahl der Terrorattentate hingegen wächst. Der Bogen lässt sich vom Berliner Breitscheidplatz 2016 bis zur Berliner Stadtautobahn 2020 schlagen.
Die Flüchtlingspolitik hat Europa gespalten – unabhängig von der Tatsache, dass der „Kavaliers-Politologe der Kanzlerin“ (Peter Sloterdijk), der Berliner Professor Herfried Münkler („Die neuen Deutschen“), zur Rechtfertigung auf die Situation der ost- und südosteuropäischen Staaten verwiesen hatte. Deren fragile ethnische Gemengelage wäre gestört worden, hätten sie massenhaft Fremde aufnehmen müssen. Da war es besser, das vermeintlich reiche Deutschland springt ein, so der Gelehrte mit dem Spitzbart. Der daraus resultierende Kollateralschaden für das eigene Volk ist demgegenüber eher peripher.
Man weiß jetzt zumindest, dass nicht alle Regierungen in Europa bereit sind, solche verhängnisvollen Wege einzuschlagen. Eine Pflicht zum kollektiven Selbstmord gibt es nicht. Entsprechende Signale kommen nicht nur aus Polen und Ungarn. Der ehemalige tschechische Präsident Václav Klaus hat ausgesprochen, was den hiesigen Duckmäuser nicht gern über die Lippen kommt: „Wir schaffen das“ sei ein Motto, das der Anfang vom Ende der europäischen Kultur sein könne. Eine solche Aussage mag man für übertrieben halten – und doch ist unstrittig, dass die Weichen falsch gestellt sind. Das ist schlimm genug.
Aufgewühlte Polarisierung
Die Regierungsmedien sind eifrig dabei, Merkels Vorgehen anlässlich des „Jubiläums“ zu bejubeln. Überall, wohin man schaut, angeblich ein Integrationserfolg nach dem anderen. Aller Schönfärberei zum Trotz: Der geistige Bürgerkrieg ist zu offensichtlich, als dass er noch unter den Teppich gekehrt werden könnte. Die „Diktatur der Angst“ (Stefan Schubert) greift immer mehr um sich.
Gastbeiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen, und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Professor Dr. Felix Dirsch lehrt Politische Theorie und Philosophie. Er ist Autor diverser Publikationen, u.a. von “Nation, Europa, Christenheit” und “Rechtes Christentum“. Dirsch kritisiert unter anderem den Einfluss der 68er-Generation und der „politischen Korrektheit“.
2012 erschien sein Buch “Authentischer Konservatismus. Studien zu einer klassischen Strömung des politischen Denkens”.
Bild: Michael Lucan, Lizenz: CC-BY-SA 3.0
Text: gast