Merkwürdiger Versprecher: Hält sich Merkel Hintertür zum Kanzleramt offen?

Angela Merkel ist eine Großmeisterin der verbalen Nebelkerzen. Dass sie fast immer im Ungenauen bleibt, sich so gut wie nie festlegt, ist eines ihrer Erfolgsgeheimnisse. Und eine Eigenschaft, die sie mit jemandem gemein hat, der ebenfalls wie sie in einer kommunistischen Kaderorganisation politisch sozialisiert wurde: Wladimir Putin. Beide sind politische Chamäleons, und schaffen es so, für Menschen mit ganz unterschiedlichen politischen Ansichten wählbar zu sein. Fast jeder kann seine Wünsche und Vorstellungen auf sie projizieren – zumindest, so lange er sich nicht intensiver mit ihrer Politik befasst und dann den Etikettenschwindel durch Nicht-Festlegen durchschaut.

Schon vor einer Woche habe ich eine Serie von Analysen zu Angela Merkel auf meiner Seite angekündigt. Aus sehr aktuellem Anlass muss ich sie nun sofort starten, und auch in ganz anderer Reihenfolge als geplant. Denn eigentlich sollte meine Meinung darüber, ob die Kanzlerin wirklich abtreten wird in einem Jahr, am Ende der Serie stehen. Und eingebettet sein in eine Gesamtprognose. Doch nach der Steilvorlage der Kanzlerin heute bei ihrem Treffen mit ihrem Möchtegern-Nachfolger Markus Söder am Chiemsee wäre es zu schade, zu warten.

Da sagte Merkel nämlich einen Satz, der aufhorchen lässt: „Sie wissen, dass ich als Bundeskanzlerin ja sozusagen nicht mehr zur nächsten Wahl antrete.“ Als Spezialist für postkommunistische Systeme musstet ich bei dem „ja sozusagen“ sofort aufhorchen. Ein Freud´scher Versprecher der Kanzlerin? Man soll nicht sofort das Gras wachsen hören, sagte ich mir. Bis ich das Zitat googelte. Und herausfand: Auf der Seite des Bundeskanzleramtes fehlt es. Ebenso wurde es bei vielen Zeitungen herausgestrichen:

Eine nachträgliche stilistische Korrektur, könnte man nun beschwichtigend sagen. Aber bei so einem wichtigen Punkt? Ob hier der Wortlaut einfach so ohne Absprache mit der Chefetage geändert wird, ist fraglich. Und merkwürdig ist die fast schon parallele Streichung in so vielen Medien. Sie mag auf eine Übernahme von Agentur-Texten zurückzuführen sein – aber warum trauen sich die Agenturen, in den Originaltext einzugreifen? Wer weiß, wie eng heute der Draht zwischen Kanzleramt und wichtigen Redaktionen ist, wird zumindest misstrauisch.

Bemerkenswert ist auch, was die Kanzlerin nach dem Satz zum „sozusagenen“ Abtreten sagte: „Mit dieser Aussage verbunden ist, dass ich mir in der Frage ‚Wer wird mein Nachfolger?‘ eine besondere Zurückhaltung auferlege. Deshalb werde ich dazu in keiner Weise etwas kommentieren. Ich kann nur sagen, Bayern hat einen guten Ministerpräsidenten, und der hat mich heute eingeladen.“

Eigentlich wäre ein anderes Verhalten logisch: Dass die Amtsinhaberin 14 Monate vor der Wahl alles daran setzt, einem Nachfolger die Möglichkeit geben, sich aufzubauen. Denn die Frist ist bereits sehr knapp. Ideale Bedingungen hätte ein Nachfolger gehabt, wenn sie zur Mitte der Legislaturperiode das Zepter übergeben hätte. Aber Merkel machte nicht mal Anstalten, den CDU-Parteitag zeitnah abzuhalten. Der ist erst für Dezember geplant – neun Monate vor der Wahl. Wie soll da ein Nachfolge-Kandidat noch erfolgreich aufgebaut werden?

Schon Anfang Juni war es zu einer Merkwürdigkeit bei dem Thema gekommen. ZDF-Journalistin Bettina Schausten fragte die Kanzlerin damals: „Die Krise ist nicht zu Ende, das fordert ja vielleicht auch etwas von Ihnen. Denken Sie manchmal darüber nach, dass sie in Verantwortung bleiben müssen, vielleicht auch für eine nächste Kanzlerkandidatur zur Verfügung stehen.“

Eine perfide Art der Fragestellung – was aber dem flüchtigen Zuschauer kaum aufgefallen sein wird. Richtig wäre gewesen, zu fragen, ob Merkel eine fünfte Kandidatur ausschließt. Ob sie darüber nachdenkt, ist eine Wischiwaschi-Frage. Und die Antwort so verbindlich wie die Reaktion eines notorischen Rasers auf die Frage, ob er weiter rasen wolle.

Interessant ist, was dann die Nachrichtenagenturen aus der Stelle im Interview machten – und damit die meisten Leser und Zuschauer im Land zu lesen bzw. zu hören bekamen: „Spekulationen über eine mögliche fünfte Amtszeit erteilte Merkel erneut eine klare Absage.“

Wer zwischen den Zeilen lesen kann, kommt zumindest um den Verdacht nicht herum, dass Merkel sich ein Hintertürchen für eine fünfte Amtszeit offen hält. Allein schon die Tatsache, dass 14 Monate vor den Bundestagswahlen noch kein Kronprinz auserkoren ist bzw. sie genau das verhindert, kann als Indiz dafür gelten. Im Zweifelsfall könnte sich Merkel dann – offiziell „gegen ihre eigenen Pläne“ und, wie man in der DDR sagte, „auf vielfachen Wunsch der Werktätigen“ – quasi überreden lassen, noch einmal „in den sauren Apfel zu beißen“, den „heiß ersehnten Ruhestand“ in China aufzuschieben und sich nochmal „zu opfern“. In ihrem Fall Sache nicht fürs Land, sondern für die gemeinsame Sache (ich überlasse es Ihrer Phantasie, worin die bestehen könnte).

Nein, ich behaupte nicht, dass es so kommen wird. Ich finde nur, dass bei realistischer Betrachtung viel dafür spricht, dass Merkel sich diese Option offen hält. Doch selbst wenn sie nächstes Jahr offiziell abtritt – dass sie wirklich die Zügel völlig aus der Hand geben wird bzw. will, ist alles andere als ausgemacht. Doch davon mehr in den nächsten Folgen meiner Serie „Das System Merkel“, die hiermit begonnen hat. Ich fürchte, das Thema wird uns noch länger beschäftigen, als uns lieb ist.


Bild: Ispireimages/janfj93 pixabay/Ekaterina Quehl

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