Normalerweise ist Jeremy – so soll er hier heißen, damit seine Anonymität gewahrt bleibt – ein Fels in der Brandung des hektischen Alltags. Nichts bringt den bodenständigen Gastwirt aus der Ruhe oder gar aus der Fassung – so war ich jedenfalls überzeugt, seit ich ihn kenne. Bis zu Corona. Gestern rief er mich an, und seine Stimme klang so aufgeregt, dass ich ihn kaum erkannte: „Wie kann das sein? Die Kindergärten werden wieder aufgemacht, wo die Kinder sicher keinen Abstand von anderthalb Metern halten, und ich darf mein Restaurant nicht öffnen? Viele Kollegen, die ich kenne, sind schon pleite. Bei uns kommen erwachsene Menschen, da kann man die Sicherheitsregeln viel einfach und besser beachten als in einem Kindergarten!“ Jeremy versteht die Welt nicht mehr. Zumindest die deutsche, in die er vor ein paar Jahren gekommen ist. Und sich als Inhaber eines florierenden Restaurants in einer deutschen Großstadt gut integrierte.
Im Moment arbeitet nur noch der Lieferservice, erzählt Jeremy. Damit kommt er kaum auf die laufenden Kosten. Weil er in den fetten Jahren etwas Geld auf die Seite gelegt hat, geht es für ihn persönlich noch nicht um die Existenz. Noch nicht. Aber viele Kollegen stehen vor dem Nichts, kämpfen ums nackte Überleben.
„Die Gastronomie ist tot“, sagt Jeremy so traurig, wie ich ihn noch nie gehört habe. Und wiederholt es noch zweimal. „Mein Lieferant, der mir Gemüse und anderes bringt, ein älterer deutscher Mann, sehr nett, er hat sein ganzes Leben lang so hart gearbeitet, er hat mir erzählt, dass er vor Corona 45 Restaurants und Hotels belieferte, jetzt sind schon acht im Konkurs. Und die werden ihm seine letzten Rechnungen nicht mehr bezahlen können. Und jetzt ist es sehr wahrscheinlich, hat er mir gesagt, dass er selbst auch bald pleite geht, er hat noch Geld für zwei, drei Wochen. Dann ist bei ihm Schluss. Aber das Ganze wird nicht in zwei, drei Wochen vorbei sein.“ Der Mann habe im ganzen April nur 3000 Euro Umsatz gemacht, erzählt Jeremy: Aber da er als Großhändler ein Lager, zwei Fahrer und ein Büro brauche, reiche dieser Umsatz kaum für die Briefmarken, und er sei dick im Minus.
Ein anderer Großhändler, den Jeremy kennt, einer der größten Gastronomie-Lieferanten, habe normalerweise 30.000 Euro Umsatz am Tag, und komme jetzt nur noch 2000 bis 3000.
„Ich habe mit Kollegen gesprochen, die sind alle am Ende“, erzählt Jeremy weiter: „Leute mit erfolgreichen Häusern. Ein Kollege, mit zwei bekannten Restaurants, die er seit 14 Jahren führt, musste jetzt seine eigenen, privaten Ersparnisse auflösen, um die Kurzarbeit für seine Mitarbeiter vorzufinanzieren. Ich habe ihn gefragt, hast du überhaupt keine Rücklagen? Er sagte mir: Nein, wie denn? Wenn du gut arbeitest und erfolgreich verdienst, dann nehmen sie dir alles weg in Deutschland, in den letzten Jahren, die riesigen Steuern, Sozialversicherungskosten, Abgaben, GEMA, Versicherung, Auflagen, sie haben uns so gemolken, dass auch ein sehr erfolgreiches Restaurant, wo du denkst, der Besitzer ist Millionär, keine Rücklagen mehr hat. Der Kollege fährt jetzt allein mit seinem Bruder die Lieferungen raus, um Geld zu sparen. Das muss man sich vorstellen: Er hat zwei Restaurants und ein Catering in einer deutschen Großstadt, fährt selbst das Essen raus, und macht keinen Gewinn.“
Wie es weitergeht? Die deutsche Gastronomie werde nicht mehr wiederzuerkennen sein, meint Jeremy traurig. Und es werde viele, viele menschliche Tragödien geben.
Bild: Pixnio (Symbolbild)