Angela Merkel sagte vor vier Tagen, am 11.3.2020:„Die Vorstellung, dass man etwas durch eine Abriegelung aus einem Land halten kann, ist naiv. (…) Wir in Deutschland sind jedenfalls der Meinung, dass Grenzschließungen keine adäquate Antwort auf die Herausforderung sind.“
Heute vermeldet die Bild-Zeitung: „Zu Frankreich, Österreich und der Schweiz: Deutschland schließt die Grenzen.“
Dabei belehrte gestern noch das heute-Journal die Bundesbürger, das dies „nicht mehr sinnvoll“ sei: „In Deutschland haben wir so viele Fälle, dass es zum jetzigen Zeitpunkt nicht mehr sinnvoll ist, die Grenzen zu schließen, weil vermutlich schon sehr viele Infizierte die Grenze überschritten haben“, sagte der Virologe Martin Stürmer im Gespräch mit Claus Kleber.
Wie kam es nun zu dem plötzlichen Wandel, mit dem Merkel die eigene Mantra – dass Grenzen nicht zu sichern sind – ad absurdum führt? Das Dogma ihrer Politik, das sie bis zuletzt eisern verteidigte, auch um den Preis zu spät ergriffener Schutzmaßnahmen? Viel spricht dafür, dass der Kanzlerin das Wasser bis zum Halse steht – und die tatsächliche Lageeinschätzung noch viel dramatischer ist, als offiziell angegeben wird. Andererseits ist der groß verkündete Schritt nur Symbolpolitik: Er betrifft nur drei Länder, und Flugzeuge selbst aus diesen können weiter landen. Bis heute gibt es keine wirksame Kontrolle an den Flughäfen von Flugzeugen aus China, auch Fieber-Messungen finden nicht statt. Angekündigte Schutzmaßnahmen wie die Bar-Schließungen in Berlin werden nicht umgesetzt. Augenzeugen berichten, wie schwer es ist, einen Corona-Test zu bekommen. Er kostet 300 Euro und wird in der Regel nicht von den Kassen übernommen. Und das, obwohl einer der Hersteller berichtet, er verkaufe die Test-Sets für 2,50 Euro und sie dürften eigentlich inklusive Laborkosten nur 10 Euro kosten (nachzulesen hier).
Vor diesem Hintergrund werfen auch die Statistiken zahlreiche Fragen auf. Wie kann es sein, dass Italien, als es dort 9172 Infizierten gab, bereits 463 Todesfälle meldete, Frankreich zählt gestern bei 4469 Infizierten 91 Todesfälle, Spanien bei 6391 Infizieren 196 – und Deutschland bei 5620 Erkrankten nur zehn – nur zwei mehr als zu der Zeit, als es noch rund 3500 Infizierte gab? Wie ist es möglich, dass seit rund zwei Wochen für Deutschland 9 Schwererkrankte ausgewiesen werden, wie das Portal „Sciencefiles“ berichtet, „egal, wie viele Fälle neu dazu kommen, egal, wie viele sterben, die neun bleibt stehen.“ Der weltweite Durchschnitt von Schwererkrankten liegt bei sieben Prozent der Infizierten – der deutsche Wert ist ein winziger Bruchteil davon. Aktuell sind es sogar nur noch zwei Schwererkrankte in der Statistik – gegenüber etwa 300 in Frankreich und 272 in Spanien (siehe hier).
Weiter schreibt das Portal: „Man kann sich vor diesem Hintergrund fragen, ob in Deutschland ein COVID-19 Wunder geschehen ist und Deutsche sich als besonders hartnäckig gegen das Virus erweisen, quasi teutonisch-immun, oder ob Fälle, Todesfälle, in Deutschland unbemerkt, unberichtet bleiben, unterschlagen werden.“ Als mögliche Erklärung beschreibt das Portal Anreize im deutschen Gesundheitswesen, Corona-Infektionen zu verschweigen – Details sind hier nachzulesen. Auch der Tagesspiegel befasste sich mit der Frage nach dem Grund für die Unterschiede – und kam zu ganz anderen Ursachen – er hält Thesen wie die von „Sciencefiles“ für „Verschwörungsfantasien“ (siehe hier). In dem Artikel heißt es, in Deutschland seien „auch viele jüngere Menschen etwa als Kontaktpersonen Erkrankter zu einem frühen Zeitpunkt getestet worden, bei denen eine Ansteckung sonst vielleicht gar nicht aufgefallen wäre.“
Manche kritische Aspekte sind in vielen Medien in Deutschland eher selten zu finden. So sehr dort das Krisenmanagement von US-Präsident Trump kritisiert wird, so auffallend oft wird die Bundesregierung entweder gelobt oder zumindest nicht kritisiert. Auch die Frage, warum in Bayern heute noch Kommunalwahlen stattfanden, wird allenfalls am Rande behandelt. Stattdessen geht die Beschwichtigung und vor allem das Ablenken von alten Fehlern weiter! Eine italienische Journalistin beklagte im Presseclub der ARD, dass das Bundesliga-Spiel Gladbach gegen Dortmund am 7. März rund 30 Kilometer vom Epizentrum der Corona-Infektion vor vollem Stadion stattgefunden hat. Dies könnte sich als Kardinalfehler im Umgang mit der Krankheit in Deutschland erweisen. Der Chefredakteur der Rheinischen Post, Moritz Döbler, hält entgegen: Nein, das Stadion sei leer gewesen! Keiner widerspricht in der Runde (anzusehen hier – ab Minute 13.15). Die völlig berechtigte Kritik ist damit als Falschaussage diskreditiert – mit einer Falschaussage. Vor einem Millionenpublikum.
Dieses Verharmlosen hat Tradition. Corona hochansteckend und gefährlich? Das ist Verschwörungstheorie und Panikmache! Das Virus ist weniger ansteckend als Grippe und Masern. All das war noch vor kurzem vom gebührenfinanzierten Bayerischen Rundfunk zu hören. Merkwürdigerweise ist das „Aufklärungsvideo“ jetzt nicht mehr abrufbar bei dem Sender – hier findet man es noch. Im Nachhinein betrachtet klingt es wie Hohn.
Viele Menschen scheinen solchen Unsinn verinnerlicht zu haben. In Berlin etwa gab es heute noch munteres Frühlingsleben, man sammelte sich in Gruppen etwa im Schlusspark Charlottenburg – vor allem Jüngere. Für die ist die Krankheit zwar in der Tat weniger gefährlich – aber dass dies nicht das Problem ist, haben offenbar viele nicht verstanden: Die Gefahr besteht darin, dass zu viele Menschen gleichzeitig erkranken und deshalb das Gesundheitssystem zusammenbricht wie in Italien. Und Jüngere sind als Überträger genauso gefährlich wie jeder andere auch. Insofern ist es höchst unsolidarisch, wenn sie auf Vorsichtsmaßnahmen nicht verzichten – es kann Leben kosten.
Umso schwerwiegender, dass etwa der #ARD-Presseclub am Sonntag insgesamt eher einer Beruhigungs-Veranstaltung glich. Wie bezeichnend, dass ausgerechnet die italienische Teilnehmerin darin Tacheles redete und versuchte, die Finge in die Runde zu legen – während die drei deutschen eher beschwichtigten. Dafür war umso mehr Eigenlob für die Medienbranche zu hören. Der Chef der Rheinischen Post, Döbler, antwortete auf die Frage eines Zuschauers, ob es angesichts bereits bestätigter Fälle von infizierten „Flüchtlingen“ sinnvoll sei, die Grenzen angesichts von Corona weiter für „Flüchtlinge“ offen zu halten: „Das Menschenrecht auf Asyl endet nicht, wo jemand krank ist.“
Auch folgende Zuschauerfrage war im Presseclub zu hören: „Sollten wir in Deutschland so ehrlich sein, dass die Medien in der Mehrheit auch die Politikern erst mal auf dem falschen Dampfer waren, und diese Erkenntnis nutzen, um auf den richtigen zu kommen? Ich habe seit Februar versucht, Menschen darauf hinzuweifen, was gut daran wäre, zu sagen, wir machen jetzt einen Stopp, so früh es geht. Wir machen jetzt noch den Fehler, nicht ganz konsequent zu sein und zu Ende zu denken!“ Statt den drei Deutschen in der Runde antwortete die Italienerin – für Italien, und nur mit einem halben Satz zu den deutschen Medien („ein bisschen zu sehr low profile“). Nur „einen Satz“ gestand der Moderator, WDR-Chefredakteur Schönbohm, der deutschen Kollegin in der Runde als Antwort zu. Die sagte: „Ich verwehre mich gegen dieses ,die Medien´, denn wir haben sehr viele, und die haben sehr unterschiedlich berichtet.“ Das gleiche könnte man auch über Russland sagen. Nur dass (auch) da eben die Fernsehsender und großen Medien – und nur die sind entscheidend – eine sehr einheitliche Linie haben.
Tatsächlich ist es erstaunlich, wie viele zu Beginn der Pandemie inhaltlich falsche Angaben zu dieser Seuche machten, obwohl der Informationsstand damals bereits ein anderer, ein pessimistischer war. „Da wurde noch im März der Eindruck erweckt, das sei eine normale Grippe und das Problem sei rein psychologischer Natur, die berühmte Angst vor dem Unbekannten´“, wie mein Leser Walter Schüle in einem längeren Kommentar anhand mehrerer Beispiele veranschaulichte, die ich hier gerne anführe:
„Was macht das neue Coronavirus dann gefährlich im Vergleich zu einem Grippevirus?«, wurde Ciesek gefragt. »Eigentlich nichts«, lautete ihre Antwort. Abgesehen davon, dass es keinen Impfstoff gebe, resultiere nach heutigem Wissensstand die gefühlte Gefahr vor allem aus der Angst vor dem Unbekannten und der Angewohnheit mancher Medien, bevorzugt Experten zu interviewen, die möglichst reißerische Antworten geben.“ Prof. Dr. Sandra Ciesek, Leiter der Virologie Uniklinik Frankfurt/Main.Und aus der gleichen Quelle ein anderer Fachmann, nämlich Prof. Dr. René Gottschalk, Leiter des Gesundheitsamtes Frankfurt/Main:“»Covid-19 ist in erster Linie für ältere Menschen gefährlich – aber das ist die Grippe auch«, ergänzte Gottschalk. Eine neue Grippepandemie, wie es sie zuletzt 2009 gegeben habe, würde er viel mehr fürchten als die derzeitige Situation. »In der Phase, in der wir jetzt sind, liegt die statistische Wahrscheinlichkeit, sich zu infizieren, noch nahe Null.« Nun komme es darauf an, durch geeignete Maßnahmen die Virusausbreitung zeitlich zu verzögern und so deren Amplitude zu senken.“ ( Quelle hier) Oder ein weiterer Fachmann, Ulrich Montgomery, immerhin Welt-Ärztepräsident am 28. Februar dieses Jahres:
„Welt-Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery verglich die Ausbreitung des Corona-Virus mit einer schweren Grippewelle: „Die Verbreitung des Corona-Virus wird in Deutschland ablaufen wie eine schwere Grippe-Epidemie ähnlich wie wir sie vor zwei Jahren hatten“, sagte Montgomery unserer Redaktion….Montgomery lobte Gesundheitsminister Spahn ausdrücklich für dessen Krisenmanagement. „Er reagiert verhältnismäßig. Es gibt keinen Grund zur Panik und schon mal gar nicht zu Hamsterkäufen wie in Italien.“ (Quelle hier) „Ich habe nicht die geringste Ahnung, was diese Fachleute zu einer solchen Fehleinschätzung geführt hat, während der allgemeine Informationsstand damals tatsächlich bereits ein anderer war“, schreibt Schüle weiter. Sein Fazit: „Vielleicht brauchen wir in der Tat nicht in erster Linie Kompetenz, sondern Charakter!“
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