Ein Gastbeitrag von Alexander Piroznik
Haben Sie schon einmal von Belarus (inoffiziell: Weißrussland) gehört? Für die meisten Deutschen ist das ein kaum näher definierbares Territorium an der Grenze zu Russland. Das wird sich aber sicher bald ändern, denn die politischen Prozesse, die sich gerade in diesem Land abspielen, können das Bild von Osteuropa neu prägen.
Belarus war einmal das Kernland des mächtigen Litauischen Großfürstentums – eines mittelalterlichen Staates, der sich vom Baltikum bis zum Schwarzen Meer erstreckte. Reich, tolerant und in politischer Union mit Polen, blühte die Region auf. Ihre wichtige geopolitische Lage als eine Brücke zwischen Ost und West wurde für sie aber schließlich zum Verhängnis: Nach zahlreichen blutigen Kriegen wurde Belarus dem Russischen Kaiserreich einverleibt und blieb lange Zeit ohne eigene staatliche Strukturen. Die Situation änderte sich erst nach dem Zerfall des russischen Reichs im Jahre 1917, als Belarus seine Unabhängigkeit proklamierte. Nach dem darauffolgenden Anschluss an die Sowjetunion kam es aber zu einer erneuten Unterdrückung aller nationsbildenden Prozesse, und das Land – versetzt in ein tiefes politisches Koma – schlummerte unter Kontrolle der kommunistischen Partei bis zum Zerfall der UdSSR im Jahre 1990.
Leider war Belarus auf die plötzliche Unabhängigkeit kaum vorbereitet. Die Bürger waren schockiert über die neue Realität, z.B. über das Verschwinden ihrer Ersparnisse infolge der Denominierung des Rubels sowie schreckliche Arbeitslosigkeit, und sehnten sich nach einer schnellen Rückkehr zur Normalität. Es war diese ratlos–nostalgische Stimmung, die den Weg für den Aufstieg von Alexander Lukaschenko bereitete. 1994 wählten die Belarussen statt Kommunisten einen Mann, der alles wieder gut zu machen versprach – parteilos, verheiratet, bodenständig. „Was kann jetzt schon schiefgehen?“ – dachten die Wähler erleichtert. Wie es sich später herausstellte, alles.
Der neue Präsident organisierte schnell ein Referendum und änderte die Verfassung so, dass er das Parlament und die Gerichte kontrollieren konnte. Die Politiker, die gegen ihn angetreten sind, mussten ausreisen oder verschwanden für immer. Der östliche Nachbar Russland, der eine panische Angst vor dem Entstehen eines belarussischen Nationalstaates hatte, unterstützte Lukaschenko bedingungslos, weil er als Gegenleistung den Prozess der nationalen Wiedergeburt brutal gestoppt hatte. Schon wieder wurde die belarussische Sprache aus dem öffentlichen und kulturellen Raum verbannt. Man unterrichtete sie wie eine Fremdsprache: Ein paar Stunden pro Woche, alle anderen Lehrer sprechen nur Russisch. Die Bürger, die für die staatliche Förderung der belarussischen Sprache und Kultur auftraten, wurden als „feindliche Opposition“ gebrandmarkt und verfolgt. Kein Bankgeheimnis, totale Kontrolle über Geldflüsse und absoluter Gehorsam aller Staatsstrukturen, langjährige finanzielle und politische Unterstützung von Russland, kurz ausgedrückt – eine perfekte Diktatur.
‘Eine Diktatur scheitert immer an Menschen.‘
Eigentlich war Lukaschenko mit seinem Volk ganz zufrieden: tolerant, diszipliniert, ruhig, konfliktscheu – ein „Völkchen“, wie er die Belarussen herablassend genannt hat, fast wie die Hobbits aus dem „Herrn der Ringe“.
Aus der Sicht von Lukaschenko konnten sie perfekt manipuliert werden, und das schien der belarussische Präsident viele Jahre lang erfolgreich zu demonstrieren. Nach zwei Amtszeiten als Präsident etwa wollte er nochmal kandidieren. Kein Problem! Das Verbot einer dritten Amtszeit wurde sofort per Referendum https://reitschuster.de//post/belarus-und-das-schweigen-in-berlin-warum-ich-mich-fremdschame/ aufgehoben. Hat das Volk wirklich so abgestimmt oder kam es zu einer Fälschung? Eine unwichtige Frage. Es ist ja nicht wichtig, wie man abstimmt, Hauptsache ist, wer zählt. Und gezählt hat wie immer eine enge Vertraute des Präsidenten, die „ewige“ Lidija Jermoschina. Sie bekleidet das Amt der Vorsitzenden der Wahlkommission seit 1996, seitdem ihr Vorgänger Wiktor Gontschar spurlos verschwand.
18 Residenzen, in einem Land, in dem 500 Dollar als Durchschnittsgehalt seit 20 Jahren ein unerreichbares Ziel ist? Die seien ja alle schlicht, meint der Präsident. Bau eines Atomkraftwerkes, während Belarus immer noch von den schrecklichen Folgen der Tschernobyl-Katastrophe heimgesucht wird? Ausreise von Tausenden Fachkräften jedes Jahr, weil sie keine Arbeit finden? Erklärung des Coronavirus zu einer Psychose und Verschwörung, während die Bürger litten und starben? Alles schien gar kein Problem zu sein. „Hauptsache, dass wir keinen Krieg haben“, – wiederholte der Präsident jahrelang mit Vergnügen.
Gab es gegen ihn Proteste? Natürlich. Jedes Mal, wenn die Protestierenden auf die Straßen gingen, ließ Lukaschenko sie verprügeln und verhaften. Es waren zwar jeweils mehrere Tausend Menschen, aber für Lukaschenko stand doch immer fest: Die Mehrheit der ca. 9,5 Millionen Belarussen hat er fest im Griff. Der Rest – das waren doch alles Verräter, Kriminelle und Drogensüchtige, halt unwichtig.
Dabei ließ Lukaschenko aber außer Sicht, dass die Belarussen bei aller Disziplin und Friedlichkeit doch ein trotzköpfiges Volk sind. Man nennt sich im Lande gerne „Partisanenenkel“ und nicht ohne Grund. Lange Zeit ertrug man die Diktatur mit stoischer Ausdauer. Die Unzufriedenheit mit dem Präsidenten akkumulierte sich aber unterschwellig und fast unbemerkt sowohl für die Staatsmacht als auch für ausländische Beobachter. Vor allem Lukaschenko selbst weigerte sich lange Zeit, seine sinkende Popularität nach 26 Jahren an der Macht wahrzunehmen. Offensichtlich erwartete er nach den Präsidentschaftswahlen 2020 zwar wie üblich Proteste wegen der notorischen Wahlfälschung, aber er war doch sicher, dass sie lokal und nicht besonders massenhaft sein werden.
Doch mittlerweile vollzog sich eine tektonische Änderung in der belarussischen Gesellschaft. Die neue Generation der Belarussen denkt ganz anders als die Wähler in den 1990er Jahren. Sie verbringt ihren Urlaub gerne in Europa, plant ihr Studium an den renommierten Universitäten der Welt und widersetzt sich entschieden jedem Versuch, ihre Rechte mit den althergeholten Methoden einzuschränken. Bis zu den Wahlen waren die Machthaber sich aber noch sicher, dass diese „neuen Belarussen“ noch in der Minderheit sind. Das war ein eindeutiger Fehler. Die lange glühende Unzufriedenheit brach plötzlich aus und manifestierte sich spontan zuerst in der massenhaften Unterstützung der anderen Anwärter auf den Präsidentenposten – des Bankiers Wiktar Babaryka, des Bloggers Sjarhej Zichanouski und des Geschäftsmanns Waleryj Zepkala. Nachdem Wiktar Babaryka und Sjarhej Zichanouski noch vor den Wahlen inhaftiert worden waren und Waleryj Zepkala aus Angst vor demselben Schicksal das Land verlassen hatte, solidarisierte sich die Gesellschaft um die Frau von Sjarhej Zichanouski – Swiatlana. Sie, Weranika Zepkalo und Mariya Kalesnikawa,die Sttellvertreterin von Wiktar Babaryka, wurden zu den „drei Grazien des belarussischen Volkes“ und führten die Kampagne trotz Verhaftungen und Verbote erfolgreich bis zu den Wahlen weiter.
Am Wahlabend ging keiner nach Hause, man stand vor den Wahllokalen und wartete gespannt auf die Ergebnisse. Als es bekannt wurde, dass laut offiziellen Angaben Swiatlana Zichanouskaja erbärmliche 9,9% aller Stimmen erhalten hat, ging das Warten nahtlos in friedliche Proteste über. Viele Tausende sammelten sich auf den Straßen von Minsk und – wiederum ganz unerwartet für die Sicherheitsorgane – in vielen anderen Städten von Belarus und riefen „Hanba!“ (Schande), „Uchadzi!“ (Geh weg!). Die Skala von Protesten war beeindruckend, und Hauptsache, sie waren dezentralisiert und ließen sich deshalb kaum unterdrücken. Die Kommunikation zwischen den Protestierenden erfolgte hauptsächlich über Telegram-Kanäle, jeder Stadtteil protestierte autonom.
Blendgranaten und Gummikugeln
Was dann passierte, kann man nur als einen hässlichen Alptraum bezeichnen. Die Belarussen sind gewöhnt an die Brutalität der Miliz (so heißt die Polizei in Belarus), aber an jedem Abend hat sie alle denkbaren Maßstäbe überstiegen. Zuerst wurde das Internet im ganzen Land abgeschaltet, um zu garantieren, dass die Welt nichts von der Gewalt erfährt und dass die Protestierenden keine Kommunikation miteinander haben. Danach attackierten die Spezialeinheiten und innere Truppen friedliche Menschen nicht „nur“ mit Gummistöcken, sondern auch mit Blendgranaten und Gummikugeln. Sie suchten dabei keinen Vorwand für den Angriff: Geschlagen wurden alle, die ins Visier kamen, auch verliebte Pärchen und zufällige Passanten. Die unglaubliche bluteinfrierende Brutalität, mit der Menschen nicht einfach verletzt, sondern verstümmelt wurden, war darauf abgezielt, die Gesellschaft in Furcht und Schrecken zu versetzen. Man schlug auf Minderjährige, Frauen, Journalisten, mit den Füßen, Fäusten und Gummistöcken, man brach Arme und Beine, schlug Köpfe und Zähne ein. Das Schlimmste passierte aber mit den über 5000 Inhaftierten, die im Gefängnis „Okrestino“ gequält wurden. Die Miliz sperrte bis zu 150 Personen in 20- Personen-Zellen ohne Essen und Wasser ein. Die Männer erlitten morgens Spießrutenlauf und mussten dabei schreien, dass sie die OMON (Spezialeinheiten der Miliz) lieben. Viele wurden dann mit schweren Verletzungen zurück in die Zellen geworfen und erhielten keine medizinische Hilfe. Frauen wurden ausgezogen, erniedrigt und geschlagen. Bis jetzt wurden 6 Tote bestätigt, zumindest 6 weitere Personen sind verschollen. Mehrere Hunderte Verwundete gelangten schließlich in Krankenhäuser, wurden aber dann wieder von der Miliz schikaniert und bedroht, damit sie schweigen.
Corona: Wollten IWF und Weltbank Lukaschenko bestechen?(Öffnet in einem neuen Browser Tab)
Momentan sind von den UNO-Menschenrechtsexperten 450 Fälle von Foltern und Misshandlungen dokumentiert (die Zahl der Misshandelten ist deutlich höher, aber viele haben Angst davor, sich an die zuständigen internationalen Behörden zu wenden). die Zahl der Festgenommenen beläuft sich derzeit auf mehr als 7000 und wächst jeden Tag.
Die grenzenlose Gewalt stieß aber auf eine unbegrenzte Solidarität. Eben in dieser schwierigen Zeit kam der nationale Geist der Belarussen zum Vorschein: Es begann der unabwendbare Prozess der Verschmelzung von Einzelpersonen zu einer Nation, an dem fast alle Alters- und Berufsgruppen beteiligt sind. Belarussen gründen Initiativen, um einander finanziell zu helfen und zu unterstützen, Ärzte und Psychologen bieten kostenlose Hilfe an, Geschäftsleute bieten Arbeitsplätze und Schulungen für die Arbeiter und Angestellte, die wegen ihrer aktiven Position gefeuert wurden.
Die Proteste haben 3 wichtige Besonderheiten, die sie von den Revolutionen in der Ukraine und Armenien unterscheiden.
1. Trotz einem unglaublichen Druck, den die Miliz, die OMON, die Innentruppen und KGB auf die Protestierenden ausüben, verlaufen die Proteste betont friedlich. Nur in den ersten 2 Nächten schützten sich die Protestierenden vor den Attacken, dann entwickelte man entwickelte eine hocheffiziente Gegenstrategie: Die Protestierenden wichen den schwer bewaffneten Spezialeinheiten unter dem Motto „Sei wie Wasser“ aus, um dann an einer anderen Stelle aufzutauchen. Somit wurde die Gewalt am Ende doch ineffizient, die Macht verfiel in Panik und pfiff die Spezialeinheiten zurück.
2. Die belarussischen Informatiker entwickelten eine Internet-Plattform, auf dem sich Wähler registrieren und ihre Wahlzettel hochladen konnten. So gelang es blitzschnell nachzuweisen, dass die Wahlen gefälscht wurden. Somit wurde eine unbestreitbare juristische Basis für die Forderungen der Protestierenden geschaffen. Auch nach den Misshandlungen kümmerte man sich akribisch darum, die Beweise zu sammeln und diese den internationalen Behörden zu übergeben. Die Staatsmacht verwandelte Belarus in ein gesetzloses Territorium, das Volk hält sich aber streng an die Gesetze.
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3. Die Proteste haben keine außenpolitische Dimension, sie sind weder gegen Westen noch gegen Russland ausgerichtet. Das erklärt unter anderem ihren besonders massenhaften Charakter: Am Protest sind Menschen beteiligt, die verschiedene politische Überzeugungen haben mögen, aber gegen Wahlbetrug, Misshandlungen und Lügen sind. Die Revolution verfolgte von Anfang an nur 3 Ziele – Amtsentlassung von Lukaschenko und Neuwahlen, Bestrafung für die Misshandlung belarussischer Bürger und Freilassung aller Inhaftierten. Erst nach den neuesten Aussagen des russischen Präsidenten Putin, der Lukaschenko begrenzte Unterstützung versprach, begann sich unter den Protestierenden bestimmte Enttäuschung in Bezug auf Russland zu verbreiten. Enttäuscht sind die Belarussen aber auch von der zimperlichen Reaktion der EU und der USA.
Zwischen Patt und Zugzwang
Momentan gleicht die Situation einer schwierigen Schachpartie: Mal sieht es nach einem Patt, mal nach einem Zugzwang aus. Das Volk protestiert friedlich weiter und wartet, bis Angestellte, die Miliz oder die Armee auf seine Seite treten. Lukaschenko versucht dagegen mit allen möglichen Mitteln, diese unter seiner Kontrolle befindlichen Gesellschaftsgruppen in einen bedingungslosen Gehorsam zu zwingen, um die Macht zu erhalten und die Protestierenden durch fortlaufende Repressalien und durch die ihm von Putin versprochene Hilfe einzuschüchtern. Beides funktioniert aber kaum, denn die Belarussen haben keine Angst mehr – weder vor Gewalt noch vor Russland, welches sich offensichtlich nur auf verbale Unterstützung von Lukaschenko beschränkt und ihn als einen problematischen Partner betrachtet. Was weiter kommt, ist kaum abzusehen, die Situation ändert sich ständig. Eines steht aber fest: So, wie es früher, wird es nie wieder sein. Die schlafende Nation ist erwacht und fordert Gerechtigkeit.
Alexander Piroznik (geboren 1981) kommt aus Belarus, hat seine Doktorarbeit über den deutschen politischen Diskurs in Deutschland geschrieben und wohnt aktuell in Polen.
Bild: Homoatrox/Wikicommons/(CC BY-SA 3.0)