Ein Gastbeitrag von Josef Kraus
Seit Sonntag, 27. September, sprechen im Südkaukasus erstmals seit vier Jahren wieder massiv die Waffen. Armenien und Aserbaidschan beanspruchen seit einem Jahrhundert bereits die Hoheit über die Region Nagorni Karabach (Berg Karabach). Nun haben sich beide Länder erneut gegenseitig den Krieg erklärt. Es spricht viel dafür, dass Aserbaidschan den Anfang gemacht hat. Auch die Regierung von Karabach verhängte das Kriegsrecht.
Armenien sieht sich als Schutzmacht des völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörenden, aber unabhängigen Gebiets Nagorni Karabach; es hält sieben eigentlich zu Aserbaidschan gehörende Provinzen als Sicherheitspuffer besetzt. Nagorni Karabach ist zudem kulturell und innenpolitisch sehr eng mit Armenien verbunden.
Aber man will es nicht wahrhaben – im Westen, in der EU und in Deutschland nicht: Hier stoßen zwei Kulturen aufeinander: das christlich-abendländisch geprägte Armenien (mit rund 3 Mio. Einwohnern), eine der Wiegen des Christentums, und das muslimisch geprägte Aserbaidschan (mit rund 10 Mio. Einwohnern). Samuel Huntington (1927 – 2008), vielfach als politisch inkorrekt geschmäht, wird damit erneut bestätigt. Er hatte in seinem Buch „Kampf der Kulturen“ („The Clash of Civilizations“) bereits 1996 unter anderem davon gesprochen, dass in Regionen, in denen so unterschiedliche Kulturen wie das Christentum und der Islam aneinandergrenzen, es wohl auf sehr lange Zeit „blutige Ränder“ geben werde.
Nun werden Bilder von Kampfhubschraubern, Drohnen, Artilleriegeschützen und Panzern gezeigt. Unter anderem wurde Stepanankert, das Zentrum Karabachs, beschossen. Es soll bereits Dutzende an Toten gegeben haben. Ganz neu ist diese Auseinandersetzung auch im Jahr 2020 keineswegs. Denn es war zwischen beiden Ländern bereits im Sommer 2020 weiter nördlich tagelang zu Gefechten gekommen.
Blutig aufgebrochen ist damit ein Konflikt, der zwischen 1991 und 1994 mehrere zehntausend Opfer und Hunderttausende von Vertriebenen gefordert hatte – ein Konflikt übrigens, der bereits in der damaligen Sowjetunion tobte. Beide Länder waren ab 1922 Sowjetrepubliken geworden; sie bleiben es bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion – ebenso wie das nicht minder konfliktgeladene, an Armenien und Aserbaidschan im Norden angrenzende, wie Armenien christlich geprägte Georgien. (Siehe auch den vom 7. August 2008 bis 16. August 2008 tobenden Krieg zwischen Russland und Georgien mit geschätzt tausend Toten).
Die Lage im Kaukasus war und bleibt verworren. Zwar bemüht sich seit Jahren die sog. Minsk-Gruppe mit Russland, Frankreich, den USA und der OSZE um eine Vermittlung. Ohne Erfolg! Verkompliziert wird die Lage dadurch, dass Russland an der Seite Armeniens und die Türkei an der Seite der „Glaubensbürger“ in Aserbaidschan steht.
Dass der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, der deutsche Außenminister Heiko Maas und Russlands Außenminister Sergei Lawrow sich sehr besorgt zeigten? Abgehakt!
Entscheidend wird sein, wie sich hier die USA und Russland arrangieren. Beide müssen wohl einen Spagat praktizieren: Die Türkei als Regionalmacht und Verbündeter Aserbaidschans ist NATO-Mitglied, und Putin, der ja nun auch kein überzeugter Freund Erdoğan (siehe Syrien) ist, kann kein Interesse haben, dass mit seinem Nachbarland Aserbaidschan (dieses wiederum angrenzend an den Iran) islamische/islamistische Kräfte an Einfluss gewinnen. Immerhin hatte Russland in seiner (muslimisch geprägten) Provinz Tschetschenen 1994 und 1999 in einem Ersten und einem Zweiten Krieg blutige Hände bekommen. Damals gab es vermutlich 160.000 Tote..
Umgekehrt bricht in der offiziellen Türkei ein uralter Hass gegen das christliche Armenien wieder auf. Der türkische Staatspräsident Erdoğan sieht sich in der Rechtsnachfolge des Osmanischen Reiches. Dieses hatte zwischen 1915 und 1917 den ersten großen Genozid des 20. Jahrhunderts zu verantworten, dem nach ersten Massakern Ende des 19. Jahrhunderts zwischen 800.000 und 1,5 Millionen armenische Christen zum Opfer fielen. Die offizielle Türkei leugnet diesen Völkermord bis heute, ja mehr noch: Sie stellt die Feststellung dieses Völkermords unter Strafe. 2016 hatte Erdoğan sogar den Deutschen Bundestag heftig attackiert, weil dieser in einer Entschließung des Völkermords an den Armeniern gedacht hatte.
Eine öffentliche Bezeichnung dieses „Völkermords“ führt in der Türkei regelmäßig zu einer Anklage wegen Beleidigung der türkischen Nation. Und noch heute wird in türkischen Schulen unterrichtet, diesen Völkermord habe es nicht gegeben, alle gegenteiligen Behauptungen seien feindliche Propaganda der ehemaligen Kriegsgegner, um der Türkei zu schaden.
Karabach bleibt ein Pulverfass – auch im Verhältnis zwischen westlichen und muslimischen Staaten. Das zeigt allein schon die Tatsache, dass sich bei den ersten im Juli 2020 aufflackernden Spannungen Frankreich und Griechenland rhetorisch auf die Seite Armeniens sowie Pakistan und Malaysia auf die Seite Aserbaidschans schlugen. Der Kaukasuskonflikt dort verkompliziert zudem das Verhältnis USA-Russland, das Gefüge innerhalb der NATO, und er legt an den Nahost-Konflikt eine zusätzliche Zündschnur. Der Ausgang ist offen, die Hoffnungen auf ein friedliches Arrangement scheinen gering. Mittelfristig wird es wohl kaum ohne UNO-Schutztruppen abgehen. Vor allem die USA und Russland werden sich arrangieren müssen, nicht zuletzt um das Hegemoniestreben des Irans, der sich im Frühsommer als Vermittler angeboten hatte, zu neutralisieren und um Erdoğan Grenzen aufzeigen.
Josef Kraus (*1949), Oberstudiendirektor a.D., Dipl.-Psychologe, 1987 bis 2017 ehrenamtlicher Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, 1991 bis 2013 Mitglied im Beirat für Fragen der Inneren Führung beim Bundesminister der Verteidigung; Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande (2009), Träger des Deutschen Sprachpreises 2018; Buchautor, Publizist; Buchtitel u.a. „Helikoptereltern“ (2013, auf der Spiegel-Bestsellerliste), „Wie man eine Bildungsnation an die Wand fährt“ (2017), „Sternstunden deutscher Sprache“ (2018; herausgegeben zusammen mit Walter Krämer), „50 Jahre Umerziehung – Die 68 und ihre Hinterlassenschaften“ (2018), „Nicht einmal bedingt abwehrbereit – Die Bundeswehr zwischen Elitetruppe und Reformruine“ (2019, zusammen mit Richard Drexl).