Von Daniel Weinmann
Die Zahl positiver Tests, vulgo: Corona-Fallzahlen, steigt wieder an. Für den Bundesgesundheitsminister ist dies „ganz klar“ der Beginn einer Herbst- und Winter-Welle. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass diese Welle bekämpft werden muss“, bemüht Karl Lauterbach sein altbekanntes Mantra. Mit der vierten Impfung sinke das Sterberisiko im Vergleich zur dritten Impfung bei Pflegebedürftigen „noch einmal um 90 Prozent“, twitterte der Mann, der liebend gern nachts Studien liest.
Die Stiko bläst ins gleiche Horn und empfiehlt das heiß ersehnte neue Biontech-Vakzin gegen die Omikron-Untervariante BA.5, – und zwar allgemein ab zwölf Jahren. Von Lauterbach wahlweise verdrängt, vergessen oder ignoriert: Fast genau vor einem Jahr versprach das Robert Koch-Institut 18 bis 59-Jährigen einen 100-prozentigen Schutz vor dem Tod. „Diese quasi Unsterblichen können nun endlich mit einer 4. Impfung diesen 100%igen Schutz um weitere 90% erhöhen“, höhnt ein Twitter-Nutzer. Besser könnte man die groteske Impf-Manie des Gesundheitsministers nicht auf den Punkt bringen.
Alexander Kekulé sieht dies kritisch. Für den Virologen und Epidemiologen ist es nicht nur unklar, ob der Impfstoff überhaupt schwere Verläufe verhindert. Vielmehr wundert sich der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie des Universitätsklinikums Halle, dass das Vakzin überhaupt zugelassen wurde.
Impfstoffe wurden auf Basis von Bluttests an einer Handvoll Mäusen notfallmäßig zugelassen
Die von Biontech für die hastige Zulassung des Booster-Impfstoffs durch die Europäische Arzneimittelbehörde zur Verfügung gestellten Daten hält er für „so dürftig, dass sich viele Fachleute die Augen reiben“. „Aus heutiger Sicht ist der hastige Umstieg auf die an BA.5 angepasste Vakzine nicht wissenschaftlich begründbar“, schreibt Kekulé in einem Gastbeitrag für die „Welt“. Weder für einen besseren Impfschutz noch für eine geringere Nebenwirkungsrate oder für einen epidemiologischen Vorteil gebe es belastbare Belege.
Für diese neueste Generation der mRNA-Vakzine habe es zum Zeitpunkt der Zulassung jedoch überhaupt keine am Menschen gewonnenen Daten gegeben. „Sie wurden, was selbst hart gesottene Pandemiebekämpfer in Staunen versetzte, von der in den USA zuständigen FDA auf Basis immunologischer Bluttests an einer Handvoll Mäusen notfallmäßig zugelassen“, schreibt Kekulé.
Es sei nicht einmal auszuschließen, dass die Vakzine unter Realbedingungen schlechter abschneiden als die bisherigen mRNA-Impfstoffe. Noch weniger sei über Art und Häufigkeit von Nebenwirkungen der neuen Vakzine bekannt. Epidemiologisch spreche nichts dafür, die an BA.5 angepassten Vakzine so schnell zuzulassen. „Dass in den Muskel gespritzte Covid-Impfstoffe die Übertragung des Virus nicht verhindern können, steht mittlerweile fest“, so der Hochschullehrer, „die hoch ansteckenden Omikron-Untervarianten lassen sich noch weniger ‚wegimpfen‘ als ihre Vorgänger“.
»Wir impfen für eine arme verwirrte Seele«
Der auf Arzneizulassungen spezialisierte US-Forscher Peter Doshi habe kürzlich zu Recht darauf hingewiesen, dass die schwächer krankmachende Wirkung der Omikron-Varianten und die zunehmende Immunität der Bevölkerung eine strengere Nutzen-Risiko-Bewertung neuer Covid-Impfstoffe erforderten. Zudem habe er Hinweise darauf gefunden, dass die Rate schwerer Nebenwirkungen in den ursprünglichen Zulassungsstudien von Moderna und Biontech möglicherweise unterschätzt wurde. „Überprüfen lässt sich dieser Verdacht nicht“, so Kekulé, „weil die Hersteller die dafür notwendigen Studiendaten nicht herausgeben wollen“.
Es ist nicht schwer vorauszusagen, dass die aufrüttelnden Worte des Epidemiologen in der Ampelkoalition nicht einmal für ein Schulterzucken sorgen werden. Dabei wäre es die Pflicht einer Regierung, ihre Bürger zu schützen und Schaden von ihnen fernzuhalten. Stattdessen macht man Tests mit ein paar Mäusen zur Grundlage einer völlig fehlgeleiteten Corona-Politik – während fast alle Staaten sämtliche Maßnahmen aufheben.
Ein Teilnehmer des „Welt“-Forums bringt die aktuelle Lage im „besten Deutschland, das es jemals gegeben hat“ (O-Ton Bundespräsident Steinmeier) so auf den Punkt: „Wir impfen nicht für einen epidemiologischen Vorteil, wir impfen für eine arme verwirrte Seele.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
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