Von Daniel Weinmann
In den sozialen Medien kursiert derzeit ein Video des israelischen Geschichtswissenschaftlers Yuval Noah Harari. Manche betrachten seine Ansichten als Teil des „Great Reset“, weil er zum engsten Kreis der Berater von Weltwirtschaftsforum-Gründer Klaus Schwab zählt. Ob Harari als Ideengeber für Schwabs Zukunftsvisionen fungiert, soll aber nicht Gegenstand dieses Beitrags sein und bleibt jedem Leser selbst überlassen. Vielmehr soll es darum gehen, die Diskussion zu öffnen.
Manche werden seine Dystopie als Quatsch abtun, andere sehen darin einen beunruhigenden Denkanstoß. Das Video stammt vom Athens Democracy Forum, das im Herbst 2020 mit der New York Times veranstaltet wurde. Was der streitbare Zukunftsforscher dort sagte, hat bis heute nichts an Aktualität verloren.
„Ich denke, wenn die Menschen in ein paar Jahrzehnten zurückblicken, werden sie sich vor allem deshalb an die Coronakrise erinnern, weil dies der Moment war, in dem alles digital wurde“, sagte Harari, der 2002 in Oxford promovierte, auf dem Symposium. „Und das war der Moment, in dem alles überwacht wurde, in dem wir uns damit einverstanden erklären, ständig überwacht zu werden, nicht nur in autoritären Regimes, sondern sogar in Demokratien.“
»Eine Art von Macht, die Stalin nicht hatte«
So weit, so bedrückend realistisch. Was folgt, erscheint – zum aktuellen Zeitpunkt – als reine Dystopie: „Vielleicht am wichtigsten ist, dass dieses Jahr der Moment war, in dem die Überwachung begann, unter die Haut zu gehen, denn wir haben wirklich noch nichts gesehen. Und ich denke, der große Prozess, der sich derzeit in der Welt abspielt, ist das Hacken von Menschen, die Fähigkeit, zu verstehen was in ihnen vorgeht, was sie ausmacht, was sie antreibt.“ Zum besseren Verständnis: Einen Menschen zu „hacken“, heißt für Harari, ihn besser zu verstehen und zu durchschauen, als er selber das vermag.
Die Möglichkeit, „Menschen wirklich unter die Haut zu schauen“, sei der größte Wendepunkt von allen. Denn dies sei der Schlüssel, um Menschen besser kennenzulernen, als sie sich selbst kennen. „Das ist also die entscheidende Revolution“, so der 46 Jahre alte Geschichtsprofessor an der Hebräischen Universität Jerusalem. „Corona ist entscheidend, weil es die Menschen davon überzeugt, die totale biometrische Überwachung zu akzeptieren und zu legitimieren. Das ist eine Art von Macht, die Stalin nicht hatte. Sie haben das schlimmste totalitäre Regime der Geschichte.“
Schon in seinem 2017 erschienenen Bestseller „Homo Deus – Eine Geschichte von Morgen“ entwarf Harari eine düstere Vision des Technologiezeitalters. Danach droht der Mensch durch die rasante Entwicklung der Technik überflüssig zu werden. Der technologische Wandel birgt in seinen Augen aber keine Lösung, sondern ist die Ursache dafür, dass der Mensch zur Disposition steht.
Die »Klasse der Nutzlosen« als neues Prekariat
„Im 21. Jahrhundert werden wir wirkmächtigere Fiktionen und totalitärere Religionen als jemals zuvor schaffen“, schrieb Harari, „mit Hilfe von Biotechnologie und Computeralgorithmen werden diese Religionen nicht nur jede Minute unseres Daseins kontrollieren, sondern auch in der Lage sein, unseren Körper, unser Gehirn und unseren Geist zu verändern und durch virtuelle Welten zu erschaffen.“ Es werde eine direkte Schnittstelle zwischen dem Gehirn und dem Computer geben, prophezeite er bereits im März 2017 im Gespräch mit der „Wirtschaftswoche“.
„Die Teilnahme am Computernetzwerk wird zum Zwang“, prophezeite der Historiker in „Homo Deus“. Am Ende könne der Punkt erreicht sein, an dem es unmöglich werde, sich vom Netzwerk abzukoppeln. Dann entstehe ein neues Prekariat, die „Klasse der Nutzlosen“, die von der Technik abgehängt seien. Um die überflüssigen Menschenmassen würden sich die Eliten aber nicht mehr kümmern, weil sie nicht mehr gebraucht würden.
Man solle sich dies nicht als Hollywood-Katastrophe vorstellen, die den jetzigen Menschen vernichtet, sondern als graduellen Prozess, sagte Harari in einem Interview mit der „Neuen Zürcher Zeitung“. Ganz allmählich würden sich gewisse Menschen technologisch „optimieren“. Dieses Szenario berge indes die Gefahr einer Spaltung: „Wenn jene Klassen, die es sich leisten können, langsam zu Supermenschen werden, bleibt der alte Homo sapiens abgehängt zurück. Diese extreme Ungleichheit könnte zu einer ganz neuen Art von Regime führen und das alte faschistische Ideal des „neuen Menschen“ plastisch durchsetzen.“
Zurzeit bleibt zumindest die Hoffnung, dass die Politik diesen dystopischen Techno-Utopien entgegentritt – auch wenn immer mehr Anzeichen dagegensprechen.
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Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben immer die Meinung des Autors wieder, nicht meine. Ich schätze meine Leser als erwachsene Menschen und will ihnen unterschiedliche Blickwinkel bieten, damit sie sich selbst eine Meinung bilden können.
Daniel Weinmann arbeitete viele Jahre als Redakteur bei einem der bekanntesten deutschen Medien. Er schreibt hier unter Pseudonym.
Bild: Daniel Naber, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons