Eines der faszinierendsten Phänomene in der Bunt-Republik Deutschland ist für mich die geradezu schizophrene Mischung aus altdeutschem Pedantismus und neudeutscher Anarchie. Einerseits behauptete unsere Regierung jahrelang, sie könne die eigenen Grenzen nicht schließen – um dann genau das bei Corona durchzuziehen. Das Abitur ist streng reguliert – doch die Maßstäbe zwischen den Bundesländern sind extrem unterschiedlich. Ein Abitur mit einem Schnitt von 1,0 aus Bayern hat ein ganz anderes Gewicht als ein 1,0 in Berlin – doch für den Numerus Clausus werden sie gleich bewertet – eine himmelschreiende Ungerechtigkeit gegenüber jungen Menschen (die ich in der eigenen Familie erlebe, weshalb ich sie hier erwähne).
Auf der einen Seite herrscht seit Jahren eklatanter Lehrermangel und es werden massenhaft Quereinsteiger eingestellt – während gleichzeitig gelernte Lehrer mit ausländischem Abschluss, die seit Jahren in Deutschland leben, keine Zulassung für staatliche Schulen erhielten.
Ich kenne mehrere hochqualifizierte Ärzte aus Russland oder Weißrussland, deren Abschlüsse hier nicht anerkannt werden – während andere Ärzte klagen, sie erlebten Kollegen aus arabischen Ländern in Krankenhäusern, deren Inkompetenz so himmelschreiend sei, dass sie den Verdacht hätten, ihre Diplome seien gekauft.
Wir haben einen massiven Fachkräftemangel und eine massive Zuwanderung von Unqualifizierten, die der Allgemeinheit zur Last fallen. Gleichzeitig gibt es massive bürokratische Hürden für ausländische Fachkräfte. Eine Bekannte von mir aus Russland bekommt trotz drei Stellenangeboten von Firmen, die händeringend nach einer Fachkraft wie ihr suchen, keine Aufenthaltsgenehmigung. In einem Anflug von Galgenhumor sagte ich ihr, sie müsse das Zauberwort „Asyl“ sagen.
Wer seit Jahrzehnten als Ausländer in Deutschland lebt, muss sich an der Passkontrolle an den oft langen Schlangen am Ausländer-Schalter anstellen, während jeder Bulgare oder Ire, der nur einmal zu Besuch kommt, am EU-Schalter, also faktisch am Inlandsschalter, viel schneller abgefertigt wird.
Wir reden ständig von Gleichheit und Bekämpfung von Ungerechtigkeit – gleichzeitig haben wir weiter eine Zweiklassen-Medizin, bei der privat Versicherte in der Regel schneller und oft besser behandelt werden als gesetzlich Versicherte. Aber wehe, man nennt dieses Kind beim Namen!
Bekannte von mir aus Osteuropa, die seit vielen, vielen Jahren gut integriert in Deutschland leben und die Sprache besser beherrschen als mancher Deutsche, werden nicht eingebürgert und regelrecht schikaniert, wenn sie sich darum bemühen; andere bekommen die Staatsbürgerschaft regelrecht nachgeworfen, obwohl sie sehr schlecht Deutsch sprechen und nicht integriert sind – insbesondere Zuwanderer aus dem arabischen Raum oder solche mit viel Geld.
Wir haben extrem strenge Bauvorschriften, die das Bauen massiv erschweren, und beklagen uns über Wohnungsmangel. Wir haben massive Zuwanderung, aber es ist ein großes Tabu, darauf hinzuweisen, dass diese mit zur Wohnungsnot beiträgt.
Die Liste ließe sich lange, lange fortsetzen. Ich denke, auch Sie, liebe Leserinnen und Leser, werden in den Kommentaren noch genügend Beispiele bringen. Und dabei verzichte ich noch explizit auf die unzähligen Beispiele aus der Politik – etwa dass die „Kämpfer gegen Hass und Hetze“ und für „Vielfalt, Buntheit und Offenheit“ selbst ständig Hass und Hetze verbreiten und Vielfalt, Buntheit und Offenheit nicht aushalten, wenn sie für andere Meinungen gelten soll.
Aber nun endlich zum Auslöser für diesen Artikel – der dann eine ganz andere Wendung nahm, aber ich hoffe, das werden Sie mir verzeihen.
Weil er zehn Sekunden zu spät kam, musste der Pilot einer „Eurowings“-Maschine kurz vor der Landung am Berliner Flughafen wegen des dort bestehenden Nachtflugverbots abdrehen und nach Hannover fliegen, wo er dann landen konnte.
Die 212 Passagiere mussten dann mitten in der Nacht selbst einen Weg finden, um nach Berlin zu kommen!
Wegen zehn Sekunden!
Auslöser war eine Verspätung des Fluges aus Alicante, wie der „Tagesspiegel“ berichtet.
Eigentlich greift das Nachtflugverbot in Berlin schon ab 23.30 Uhr. Es gibt allerdings eine Ausnahmeregelung für Verspätungen – bis Mitternacht.
Dafür habe die Deutsche Flugsicherung (DFS) in dem konkreten Fall auch eine Landebahn freigegeben, wie es in den Berichten heißt. Laut DFS lag es im Ermessen des Piloten, trotz der deutlichen Verspätung zu versuchen, noch rechtzeitig zu landen.
„Ein Wettlauf gegen die Zeit!“, kommentiert das die „Bild“-Zeitung: „Trotz Verspätung an dem betreffenden Tag setzte die Crew des Fluges alles daran, die Passagiere zum Zielflughafen BER zu fliegen“, sagte ein Eurowings-Sprecher demnach: „Und Pilot und Crew waren flott unterwegs – die Maschine war bereits im Landeanflug. Doch nur wenige Sekunden vor der Landung lief die Zeit ab!“
Woran die „Bild“ ihre Leser nicht erinnert: Außenministerin Annalena Baerbock von den Grünen hatte mehr Glück als die 212 Airbus-Passagiere. Sie hatte eine Sondergenehmigung erhalten, um trotz des Nachtflugverbots am Frankfurter Flughafen zu starten: Am 23. Juni 2024 hob ihre Maschine um 23:54 Uhr ab, nachdem sie ein EM-Fußballspiel besucht hatte – offenbar eine Frage von staatlicher Wichtigkeit. Denn die Ausnahmegenehmigung wurde vom hessischen Wirtschaftsministerium erteilt, das das öffentliche Interesse anerkannte.
So viel zum Thema Schizophrenie.
Bloss keine kritischen Fragen
Und war da nicht mal was mit Klimaschutz? CO₂? Wie viel zusätzliches Kerosin wurde durch das Abdrehen verbrannt? Und durch 212 individuelle Heimfahrten von Hannover nach Berlin – viele sicher auch mit einem Mietwagen? Auch diese Fragen stellt die „Bild“ nicht.
Plötzlich spielt das alles keine Rolle mehr – wegen 10 Sekunden.
Ich musste bei der Geschichte an den legendären Ausspruch meines Freundes Henryk M. Broder denken: „Wenn Deutschland überdacht wäre, wäre es eine geschlossene Anstalt.“
Und an Heinrich Heine: „Denk ich an Deutschland in der Nacht, bin ich um den Schlaf gebracht.“
Das große Problem ist offenbar, dass wir uns in einer Art „Gaslighting“ so an den alltäglichen Irrsinn gewöhnt haben, dass wir ihn gar nicht mehr als solchen wahrnehmen – sondern für die Norm halten. Und deshalb eine Mehrheit auch immer wieder diejenigen wählt, die für diesen Irrsinn verantwortlich sind.
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