John Ioannidis gehört aktuell zu den zehn meistzitierten Wissenschaftlern der Welt, so die Einstein Stiftung Berlin. Er lehrt an einer der besten Universitäten der Welt, an der Stanford University School, als Medicine Professor. Er ist Spezialist für Medizin, Epidemiologie, Bevölkerungsgesundheit sowie biomedizinische Datenwissenschaft und Statistik. Jemanden wie Ioannidis kann man nicht so leicht als „Spinner“ abtun, wie das heute viele Medien mit Kritikern des Lockdown machen. Der US-Amerikaner hatte eine wissenschaftlich überprüfte Studie vorgelegt, die dem Lockdown einen Nutzen abspricht und in Deutschland von der Politik weitgehend ignoriert wird, wie meine Nachfragen auf der Bundespressekonferenz nahelegen. Nun legt der in New York geborene und in Athen aufgewachsene Ioannidis nach – in einem Interview mit der Welt am Sonntag (WamS), das wie viele kritische Beiträge dort hinter einer Bezahlschranke liegt.
Schon im Mai vergangenen Jahres sei ihm klar gewesen, so Ioannidis: „Wir brauchen keine drakonischen Maßnahmen. Sie bringen keinen zusätzlichen Nutzen. Social Distancing, Masken, die Vermeidung von Menschenansammlungen, Hygieneregeln, all das ist sehr sinnvoll. Darüber hinaus muss man die Risikogruppen schützen, sonst kommt es zu einem Massaker. Schließlich handelt es sich um ein neues Virus, es gibt in der Bevölkerung keine oder kaum Immunität dagegen.“ Dort, wo sich das Virus weit verbreitet habe, könne ein harter Lockdown die Situation sogar verschlimmern, so der Wissenschaftler laut WamS: „Schädlich ist es zum Beispiel, die Mobilität einzuschränken, etwa durch abendliche Ausgangssperren, wie sie in vielen europäischen Ländern gelten. In der begrenzten Zeit sind dann mehr Leute gleichzeitig im öffentlichen Raum unterwegs. Sie stecken sich so vermehrt an und sitzen anschließend vermehrt in geschlossenen Räumen zusammen.“
Auf Kritik an seiner Studie vom Februar, der zufolge der Lockdown wirkungslos bis schädlich sei, antwortete Ioannidis: „Es gab auch Kritik an den Arbeiten anderer Arbeitsgruppen. Und bei der großen Mehrheit meiner Kritiker handelt es sich nicht um Wissenschaftler, sondern um Aktivisten oder um Anfänger, die selbst noch wenig publiziert haben.“ Als die WamS-Journalisten erwidern, es seien auch Wissenschaftler unter den Kritikern, „die selbst zu dem Thema Analysen veröffentlicht haben“, antwortet Ioannidis: „Sie haben mir im Vorgespräch Namen genannt. Einen überprüfe ich jetzt mal. Also, ich sehe, das ist ein junger Forscher, seine wissenschaftlichen Arbeiten wurden erst 1600-mal zitiert. Das schaffen viele meiner Studenten in zwei Jahren. Meine Arbeiten dagegen wurden rund 340.000-mal zitiert.“
Viele Forscher würden versuchen, „ihre Analysen so anzupassen, dass es zu einem bestimmten Narrativ passt“, so Ioannidis. „Inzwischen haben rund 459.000 Wissenschaftler etwas zu Covid-19 veröffentlicht. Die kamen ganz plötzlich aus dem Nichts. Das mögen kluge, in Datenanalyse gut ausgebildete Leute sein, aber sie haben nicht die geringste Ahnung von Epidemiologie oder Infektionskrankheiten oder dem Gesundheitswesen. Ihre überambitionierten Modellierungen beruhen auf unsicheren, sehr fehleranfälligen Daten – das ist, als ob man einen Mercedes-Motor in einen alten Holzkarren einbaut.“ In ihrem Enthusiasmus glaubten viele dieser Wissenschaftler, so Ioannidis zur WamS, „sie könnten fehlerhafte Daten analysieren, als handelte es sich dabei um Messwerte aus einem Teilchenbeschleuniger. Dabei bieten Modellierungen immer nur eine schwache Evidenz. Sie sollten auch auf meine Modellierung nicht vertrauen.“
Extrem schnelle Entwicklung
Die Pandemie entwickelt sich nach den Worten des Forschers „tatsächlich extrem schnell“. Typischerweise brauche man in der Wissenschaft 25 bis 30 Jahre, um eine bedeutsame Idee zu entwickeln. „Aber angesichts der Lage müssen wir eben tun, was wir können“, so Ioannidis: „Im Februar 2020 war ich noch unbedingt für einen sofortigen Lockdown. Wir wussten damals ja noch nicht, ob in der ersten Saison 10.000 oder 40 Millionen sterben werden. Aber je mehr Informationen man gewinnt, desto mehr muss man sein Handeln anpassen.“
Die Empfehlung des Wissenschaftlers für Deutschland in der aktuellen Lage: „Die Leute wieder an Social Distancing und Masken zu erinnern – und außerdem mehr zu testen. Auf keinen Fall Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen oder Ähnliches. Auf lange Sicht verschlimmern solche gesetzlichen Einschränkungen die Lage.“ Während einer aktiven Welle sei es wichtig, die Pflegeheime noch besser zu schützen und andere Risikogruppen zu einem noch konsequenteren Social Distancing aufzurufen, so Ioannidis in der WamS.
Auf den Einwand der Journalisten, „wir haben doch immer wieder erlebt, dass die Fallzahlen sinken, nachdem ein Land in den Lockdown ging“, antwortete Ioannidis: „Wenn ich mir das Timing der Maßnahmen ansehe, dann glaube ich nicht, dass der Lockdown einen Unterschied gemacht hat. Wir werden das noch genauer analysieren, wie schon bei der ersten Welle. Aber vorläufig scheint es, als habe der Lockdown sogar einen negativen Effekt gehabt. Fallzahlen sinken auch ohne solche Maßnahmen wieder.“
Der Forscher verweist darauf, dass die Corona-Wellen oft steil anstiegen und dann wieder abflauten: „Sie ähneln darin einer sogenannten Gompertz-Kurve: Der Anstieg ist zu Beginn langsam und wird dann steil, das sieht fast wie ein exponentieller Verlauf aus“, so Ioannidis in dem WamS-Interview. „Aber das bedeutet nicht, dass der exponentielle Verlauf für immer anhält. Bei einem bestimmten Punkt sinkt die Kurve wieder.“
Härtere Maßnahmen können schaden
Die Journalisten der WamS fragten ihn daraufhin: „Und Sie glauben wirklich, das hat wirklich nichts mit den Maßnahmen zur Eindämmung zu tun?“ Das ließ der Professor so nicht stehen: „Ich habe nie gesagt, dass es gar keine Maßnahmen geben sollte, ganz im Gegenteil! Nur hat unsere Analyse eben gezeigt, dass die weniger restriktiven Maßnahmen ausreichen. Noch härtere Maßnahmen wie Ausgangssperren können sogar schaden.“
Auf die Frage der Journalisten, ob es ihm Sorge mache, dass seine Arbeit „in sozialen Medien häufig als Beleg dafür angeführt“ werde, „dass die Gefahr durch das Virus übertrieben wird“, antwortete Ioannidis: „Das ist wirklich ein Problem, in den sozialen Medien liest man ja die verrücktesten Ansichten. Nicht jeder, der meine Arbeiten diskutiert, tut das in meinem Sinne. Ich würde nie bestreiten, dass dieses Virus eine Bedrohung ist, die wir einfach ignorieren können. Früher haben sich nur sehr wenige Menschen mit Wissenschaft beschäftigt, jetzt mischen plötzlich alle mit, jeder hat eine Meinung.“
Der Professor warnte, dass in der öffentlichen Debatte Wissenschaft instrumentalisiert werde. Sie sei „zu einer Waffe geworden, um gehört zu werden. In den USA werde ich vor allem von den sehr Linken angefeindet, in Griechenland von den Ultrarechten. Das ist total verrückt“, so Ioannidis. Er warnte, Wissenschaftler sollten nicht zu Aktivisten werden.
Angriffe gegen Wissenschaftler
Ioannidis beklagte in dem WamS-Interview die Aggression gegenüber Forschern: „Die Angriffe gegen Wissenschaftler sind fürchterlich. Mein Mentor Tony Fauci hat Todesdrohungen erhalten, genau wie ich, ebenso Christian Drosten. Und ich habe mitbekommen, was Hendrik Streeck passiert ist. Der wurde sehr scharf angegriffen für seine Studie in Gangelt, dabei war sie meiner Meinung nach sehr gut gemacht.“
Zu Kritik an seiner Studie im Santa Clara County in Kalifornien, der zufolge dort weniger als 0,2 Prozent der Infizierten gestorben waren, sagte der Forscher: „Wir haben die Kritik an der Statistik berücksichtigt, so wie es in der Wissenschaft sein sollte, und das grundlegende Ergebnis blieb das gleiche.“
Um zu wissen, wo Deutschland in der Pandemie wirklich stehe, brauche man „dringend repräsentative Antikörperstudien“, so Ioannidis in dem WamS-Interview: „Selbst im armen Indien wurden solche Studien mehrfach gemacht – mittlerweile haben sich dort 60 Prozent der Menschen infiziert.“
Bild: Boris Reitschuster
Text: br
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