Von Marina Litwineno*Ich bin oft in Deutschland, weil ich Land und Leute liebe. Fast jedes Mal, wenn ich hierher komme, wundere ich mich über die Einstellung vieler Deutschen
zu Russland. Auf der einen Seite herrscht eine große Begeisterung für alles Russische – für die russische Kultur, für die russische Literatur, für die russische Musik, für das, was man hier die russische Seele nennt, also die Emotionalität von uns Russen. Diese Sympathie für Russland bewegt mich tief.
Allerdings tut es mir sehr weh, zu sehen, wie oft diese Sympathie fehlgeleitet, ja missbraucht wird. Viele Deutsche glauben, wer Russland liebt, muss auch Putin gut finden. Dabei ist das Gegenteil der Fall. Wer Putin unterstützt, der unterstützt den Zerfall Russlands. Das heutige Regime im Kreml ist kriminell, raubt das Land aus, terrorisiert Kritiker, wie meinen Mann, den es umbrachte. Es überfällt Nachbarländer wie die Ukraine. Es steht für Krieg. Für Terror. Und für eine Mischung aus den schlimmsten Elementen der Sowjetunion und des Westens: Stalinismus und Mafia-Herrschaft.
Ich habe in Deutschland eine merkwürdige Begriff-Verwirrung festgestellt: Russland-Freude nennt man hier diejenigen, die Putin verteidigen – aus der Ferne, ohne in Russland zu leben. Und Putin-Kritiker werden hier Russland-Feinde genannt. Putin-Versteher nennt man diejenigen, die kein Russisch sprechen, die also die Kriegshetze im russischen Fernsehen, das Schüren von Hass gegen Kritiker, von Ultra-Nationalismus, von Blut- und Boden-Stimmung nicht verstehen.
Das Argument vieler Putin-Verteidiger ist, die Menschen in Russland seien nicht reif für
Demokratie und Rechtstaat. Wie zynisch ist das! Glauben sie etwa, wir Russen würden gerne in Willkür, und Rechtlosigkeit, in Armut und Unterdrückung leben? Was für ein Bild von den Menschen in Russland haben Putins Verteidiger, wenn sie so argumentieren? Das erinnert an Rassismus, an finstere Zeiten…
Ich bitte alle Deutsche: Gehen Sie diesem Etikettenschwindel nicht auf den Leim. Würden Sie einen Franzosen, der Merkel kritisiert, für einen Deutschlandhasser halten? Nein? Dann tun sie das auch bei Putin-Kritikern nicht. Bitte trennen Sie zwischen den Menschen in Russland und diesem Regime, das sie unterdrückt und ausbeutet. Es wundert mich, dass in Deutschland so viele Menschen glauben, Putin habe 80 Prozent Unterstützung in Russland. Das, so heißt es, besagten Meinungsumfragen. Das ist absurd. Und naiv: Die Mehrheit der Russen haben Angst, bei Meinungsumfragen die Wahrheit zu sagen. Hinter jedem Befrager könnte ein IM des FSB stecken, wie der KGB heute heißt. Wenn so ein unbekannter Befrager anruft oder klopft, denkt jeder normale Russe sofort an den Standardspruch aus US-Filmen: „Alles, was sie sagen, kann gegen sie verwendet werden.“
Auch höre ich hier oft, Russland wäre ohne Putin verloren. Dass es keine Alternative gäbe, und man deshalb mit ihm zusammenarbeiten müsse. Das ist Unsinn.
Die Demonstrationen Ende März mit Zehntausenden Teilnehmern zeigen das. Es waren vor allem junge Menschen, die auf die Straße gingen. Weil sie keine Zukunft sehen unter dem heutigen Regime. Die in Demokratie und Freiheit leben wollen.
Es ist wichtig, dass Deutschland und Europa jetzt genau die Menschen unterstützt, die sich für Demokratie einsetzen in Russland: Für eine Politik mit ehrlichem Wettbewerb und Konkurrenz, in der Regierungen friedlich abwählen können, in der die Justiz unabhängig ist und die Medien frei.
Wichtig ist auch, dass der Westen endlich umdenkt bei den Sanktionen:
Dass die heute geltenden so schlecht greifen, liegt daran, dass sie zu allgemein sind.
Die Sanktionen müssten gegen konkrete Leute aus der Führungsschicht und dem Umfeld von Putin gehen – auch gegen deren Familienmitglieder. Sie entgegnen, das sei Sippenhaft? Nein, denn sie nutzen ihre Beziehungen, um riesige Vermögen anzuhäufen und Russland auszubeuten.
Schon heute bekommen viele einfache Russen kein Visum für EU, auch wenn sie Verwandte dort haben. Oft wird die „Rückkehrwilligkeit“ angezweifelt, oder die Geldmittel, die sie nachweisen können, reicht nicht aus.
Warum wird bei einfachen Bürgern mit so hartem Maß gemessen – und diejenigen, die auf ihre Kosten Vermögen anhäuften, sollen privilegiert werden? Die EU muss hier den Spieß umdrehen: Visaerleichterungen für einfache Russen, Erschwernisse für die Nomenklatura.
Der so genannte Magnizki-Akt zeigt, wie das wirkt: Mit ihm haben die USA für eine Reihe von russischen Beamten, die direkt oder indirekt am Mord an dem Anwalt Sergej Magnizki beteiligt waren, Einreise- und Vermögens-Sperren beschlossen. Im vergangenen Jahr wollte Russland alles daransetzen, dass diese aufgehoben werden. Weil sie so wirksam sind. Wir brauchen einen Magnitzki-Akt der EU.
Die Menschen in Deutschland haben oft keine Vorstellung davon, wie die Lage in Russland wirklich ist. Wie angespannt. Dass die einfachen Menschen die Leidtragenden sind von dem, was schief läuft im Land. Die einfachen Menschen werden mit Abgaben und Steuern erdrückt – viele können ihre Familien nicht mehr ernähren. Die medizinische Versorgung ist katastrophal. Abseits von Moskau und den Millionenstädten zerfällt das Land buchstäblich.
Was in Russland passiert, ist außerhalb der Vorstellungswelt der Deutschen. Bei vielen Gesprächen sehe ich: Sie tun sich schwer, sich das vorzustellen, was ich ihnen erzähle. Etwa bei der Korruption. Die Menschen in Deutschland stellen sich das vor wie Rost an einem Metall. Aber sie verstehen nicht, dass in Putins Russland alles aus Rost besteht – und kein Metall mehr übrig ist.
Hier wären auch die Medien gefragt, die Dinge besser zu erklären. Den Deutschen die Augen zu öffnen. Ja,
die Medien berichten von Missständen. Aber Missstände gibt es überall. Aufgabe der Journalisten ist es, den Menschen klar zu machen, dass diese Missstände in Putins Russland allzu oft nicht die Ausnahme sind, wie im Westen, sondern die Regel.
Das System Putin mit seiner unvorstellbaren Korruption und kriminellen Energie ist ein Krebsgeschwür, das leider Metasthasen bildet; die gehen nach Europa, in die USA. Konkret bedeutet das, dass Teile der Eliten dort korrumpiert werden. Putin steht für weltweite Korruption! Das hat mein Mann immer erzählt, davon wollte er berichten. Vor über zehn Jahren. Damals nahm das keiner Ernst. Inzwischen gibt es immer mehr Menschen, die das verstehen.
Ich bitte Sie, liebe Deutsche: Lieben Sie weiter Russland, seine Literatur, Kultur, Musik. Aber auch wenn es schwierig ist: Machen Sie einen Trennstrich in Ihren Köpfen zwischen diesem wunderbaren Russland und diesem Monster, das im Kreml sitzt.
Aufgezeichnet von: Boris Reitschuster/Bilder: Boris Reitschuster (C)
*) Marina Litwinenko hat unter großem persönlichen finanziellen Risiko durchgeboxt, dass es eine juristische Untersuchung des Mordes an ihrem Mann gab – gegen den Widerstand des britischen Staates, dem offenbar die guten Beziehungen zu Moskau wichtiger waren. In dem von ihr angestoßenen Verfahren kam dann ein britischer Richter zu dem Schluss, dass der Mord an ihrem Mann „von ganz oben“ im russischen Staat beauftragt wurde.