„Kein Kontakt mehr zum realen Leben“ Ein Abgeordneter klagt an

Ein Blick zurück – besondere Nachrichten aus dem Jahr 2020. Hier vom Juni:

Verunglimpfung der Europäischen Hymne, Zulassungsbestimmungen zu Pflanzenschutzmittel und die Ausbaustrecke Hanau-Gelnhausen: Über all diese Themen diskutierte der Bundestag in Zeiten von Corona – nicht jedoch über Probleme, die etwa unseren Einzelhandel schwer belasten. Der parteilose Abgeordnete Mario Mieruch klagt, dass unser Parlament lieber die Welt rettet als unsere Wirtschaft, dass die Corona-Einschränkungen im Hohen Haus gefährlich und unnötig sind – und die Rechte der Abgeordneten bei der Kontrolle der Regierung so weit eingeschränkt, dass man von einer Missachtung des Parlaments sprechen kann. 

Frage: Sie wundern sich über die Themen, mit denen sich der Bundestag befasst. Warum?


Mieruch: Wir befinden uns in einer nie vorher dagewesenen Krisensituation. Der Bundestag hat, völlig zu Recht, eine pandemische Lage festgestellt. Er hat dann aber auch seine Beschlussfähigkeit bis zum 30.9 auf 25 Prozent reduziert. Das heißt, es reicht, wenn ein Viertel der Abgeordneten, also von 709 nur mindestens 178, anwesend ist. Unter solchen Rahmenbedingungen erwarte ich eine klare Priorisierung von Themen, die unmittelbar und existenziell krisenbedingt behandelt werden müssen. Wenn man aber auf die Tagesordnung blickt, findet man dort Dinge, die so gar nicht zur pandemischen Lage passen.

Frage: Welche?


Mieruch: Waren die unmittelbaren Plenartage nach dem Lockdown noch fast vollständig von Corona-Themen dominiert, haben wir jetzt Punkte, bei denen man sich durchaus fragen muss, ob die jetzt, bei nach wie vor reduzierter Beschlussfähigkeit, wirklich wichtig sind. Das geht los mit Zulassungsbestimmungen zu Pflanzenschutzmitteln, Blutspendeverbot oder einer 40-minütigen Debatte über eine Ausbaustrecke Hanau-Gelnhausen. Auch Tschernobyl und Fukushima haben ebenso wenig mit Corona zu tun, wie das Adoptionshilfegesetz. Oder die Änderung des Wasserhaushaltsgesetzes. Und jede Menge anderer Dinge, in der vorigen Sitzungswoche etwa die Änderung des Strafgesetzbuches, dass das Verunglimpfen der europäischen Hymne und der europäischen Fahne unter Strafe gestellt wird. Da muss man sich wirklich fragen: Nichts davon hat in irgendeiner Weise mit der pandemischen Lage zu tun. Wofür braucht es dann jetzt noch diese reduzierte Beschlussfähigkeit?

Frage: Umgekehrt beklagten Sie, dass viele Themen, die jetzt wichtig wären, nicht auf der Tagesordnung sind?

Mieruch: Ja, letzte Woche war geplant, endlich die Gesetzesänderung zur Bon-Pflicht zu besprechen. Denn immerhin leiden unsere Bäcker, Einzelhändler und viele andere Unternehmer unter dieser neuen Regelung, die sich ja als ziemlich unsinnig erwies. Erstaunlicherweise hat man es aber geschafft, das Thema zum fünften Mal in Folge von der Tagesordnung zu nehmen. Das heißt, die tatsächlichen Alltagsbelange unserer Einzelhändler spielen im Bundestag offensichtlich derzeit keine wirkliche Rolle, während aber wohl ausreichend Zeit für jede Menge Anderes war und ist. Da frage ich mich auch, was die FDP eigentlich so treibt?

Frage: Inwiefern?


Mieruch: Die wollte ja immer einmal Mittelstandspartei sein. Und sie hat auch einen gar nicht mal so unsinnigen Änderungsantrag vorbereitet. Aber scheinbar besteht sie nicht darauf, dass der endlich zur Sprache kommt und hat mehrfach hingenommen oder selbst entschieden, dass er wieder heruntergenommen wurde. Derweil läuft der Unsinn mit den Doppelbons für alle weiter.

Frage: Wie erklären Sie sich das, dass man im Bundestag breit über die Gesundheitslage weltweit spricht, aber nicht über die Probleme unserer Wirtschaft vor der Haustüre?

Mieruch: Man hat des Öfteren den Eindruck, dass der Bundestag eher ein besonderes Augenmerk darauf legt, weltweit eine Vorreiterrolle einzunehmen. Die Redensart „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ ist der deutschen Politik ja bereits in Klima-, Energie- und Migrationsfragen ausgeprägt zu eigen. Wenn man mit dem realen Leben vor der eigenen Haustüre nicht mehr so viel in Berührung kommt und es augenscheinlich auch gar nicht so richtig will, kann man schön davon ablenken, dass die Corona-Entwicklung hierzulande die ersten sechs Wochen trefflich verschlafen wurde, weil unser Gesundheitsminister mit seinen Partei-Karriereambitionen und alle anderen mit dem Ministerpräsidentenwahltheater in Thüringen beschäftigt waren. Die Dauerhybris, stets schlauer sein zu wollen, als der Rest der Welt, die kommt on top.

Frage: Wenn vor allem Themen behandelt werden, die keine Priorität darstellen, sind dann die Einschränkungen bei der Beschlussfähigkeit zu rechtfertigen?

Mieruch: Ich war von Anfang an der Meinung, dass diese gar nicht erforderlich gewesen wären. Es wäre auch mit der bisherigen Regelung gegangen, die 50 % Anwesenheit vorschreibt, weil man zwischenzeitlich für namentliche Abstimmungen Zeitfenster eingerichtet hat, so dass nicht alle Abgeordneten im Pulk um die Wahlurnen herumstehen müssen. Die Geschäftsordnung wird auch gerne von den Fraktionen genutzt, um Spielchen zu spielen. Wir hatten das in dieser Legislaturperiode schon häufiger erlebt, mit den Hammelsprüngen etc. Jetzt haben wir aber eine Notlage und da muss man einfach einmal aufhören mit solchen Spielchen. Man hätte sich parteiübergreifend einigen können: was ist jetzt das Wichtigste für die Leute im Land, welche Dinge müssen unbedingt besprochen werden und wir gehen fair und redlich miteinander um.

Frage: Gefährden diese Spielchen die Demokratie?

Mieruch: Ja, denn sie lähmen und behindern sie. Es gibt doch nun reihenweise Beispiele, wie wichtige Anträge teils über mehrere Monate verschleppt wurden, weil man sie am Ende selber einbringen wollte. Jetzt können mit einem Viertel der Abgeordneten faktisch alle Beschlüsse gefasst werden. Das ermöglicht unserer GroKo, problemlos alles zu beschließen, wozu sie Lust und Laune hat. Es braucht nicht einmal die GroKo, denn alleinedie Unionsfraktion erfüllt schon dieses Quorum, wenn alle ihre Mitglieder da sind. Und da es rechtlich gar nicht möglich ist, die reduzierte Anwesenheit aller Abgeordneter und Fraktionenirgendwie paritätisch zu regeln, könnte die Union mit absoluter Mehrheit ganz alleine beschließen. Spannend wird das in den verbleibenden kommenden Wochen, was da so alles auf der Tagesordnung erscheint und wie viel öffentliche Diskussion es um die Themen gibt. Wir brauchen uns ja nichts vor zu machen, diese Möglichkeiten sind verlockend…

Frage: Sie klagen auch darüber, dass es mit parlamentarischen Anfragen von einzelnen Abgeordneten an die Bundesregierung Probleme gibt. Welche genau?

Mieruch: Tatsächlich fragt man sich oft, was die Antwort der Bundesregierung mit der Frage zu tun hat. Und obwohl penibelst darauf geachtet wird, dass die vorgeschriebene Form der Fragestellung eingehalten wird, werden oft Fragebestandteile einfach nicht beantwortet.

Frage: Sehen Sie darin eine Missachtung des Parlamentes?

Mieruch: Absolut. Man muss sich vor Augen halten, dass jeder Abgeordnete nur vier Fragen pro Monat stellen darf. Wie können Sie da, auch als fraktionsfreier Abgeordneter, einem Thema wirklich auch den Grund gehen, wenn immer wieder mal die Hälfte der Antwort fehlt? Jetzt gibt es sogar Regelungen, dass die Antworten eine bestimmte Anzahl an Unterpunkten nicht überschreiten dürfen, sonst müsste die Frage anders gestellt werden. Ja woher soll ich das denn vorher wissen? Und das führt mich zu dem Punkt, der mich am meisten wütend macht: Statt dass unsere Regierung dem vom Souverän gewählten Kontrollorgan bereitwillig und umfassend Auskunft über ihr Tun gibt, muss ich ihr als Mischung aus Sherlock Holmes und Hercules Poirot jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Das Selbstverständnis unserer parlamentarischen Demokratie wird so auf den Kopf gestellt. Ich bin als Abgeordneter kein Bittsteller.

Frage: Geht das nur Ihnen so? Hätten Sie das Problem nicht, wenn sie in einer Fraktion wären?

Mieruch: Das kann ich nicht beurteilen, ich weiß nur von meiner Sitznachbarin im Plenum, Frauke Petry, dass sie vor den gleichen Problemen steht. Über den Buschfunk habe ich allerdings gehört, dass es in den Fraktionen auch Beschwerden darüber gibt, dass die Fragen, die wir fraktionsfreien Abgeordneten stellen, zu umfangreich etc. sein.

Frage: Verstehe ich das richtig, dass Abgeordneten-Kollegen sich beschweren, dass sie ihre Kontrollfunktion zu stark wahrnehmen?


Mieruch: So könnte man das zusammenfassen. Es sind, wie gesagt, Gerüchte, aber allein die Tatsache, dass die gestreut werden und bei uns ankommen, ist bemerkenswert.


Zur Person: Mario Mieruch, geboren 1975 in Magdeburg, ist Diplom-Ingenieur für Mechatronik. Er wurde im September 2017 über die Landeslisteder AfD Nordrhein-Westfalen in den Bundestag gewählt; am 4. Oktober 2017 trat er aus der AfD-Bundestagsfraktionaus und verließ die Partei. Seither ist er fraktions- und parteiloser Abgeordneter. Sein Blog ist hier zu finden.


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