Was ist mit der ARD los? Hat der Corona-Maßnahmen-Skeptiker Sucharit Bhakdi einen Regieraum des NDR in Hamburg unter seine Kontrolle gebracht und einen selbstproduzierten Beitrag ausgestrahlt? Natürlich nicht. Zumal SWR-Intendant Kai Gniffke ganz offen zugegeben hat, dass der Professor faktisch Bildschirmverbot hat. Aber was ist dann passiert im „Ersten“? Kaum hat die Kanzlerin Alarmstimmung verbreitet mit erschreckenden Zahlen – von bis zu 20.000 Neuinfektionen, die bald drohen – schon geschieht das Unglaubliche: Was am Montag Abend in einer Corona-Sondersendung zu sehen war, entsprach in etwa dem, wofür ein Normalsterblicher noch einen Tag zuvor vom ARD-Faktenfinder in die Ecke von „Corona-Leugnern“ gestellt worden wäre. Die wichtigsten Aussagen seien hier dokumentiert. Auch weil sie sich bestens als Argumentationshilfe zum Verlinken, Versenden oder Ausdrucken eignen, gerade im Austausch mit Menschen, deren bevorzugte Informationsquelle die öffentlich-rechtlichen Sender sind.
Plötzlich war da zur besten Sendezeit und für ein Millionenpublikum genau die Kritik zu hören, die sonst meist nur auf Seiten wie dieser hier zu Wort kommt. Eine Extra-Sendung, fast wie aus den Glanzzeiten des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Dreht sich da der Wind? Hat jemand einen Hebel umgelegt? Oder liegt es nur daran, dass für die Sendung NDR-Mann Thomas Berbner verantwortlich war? Der ist eine absolute Ausnahme-Erscheinung im öffentlich-rechtlichen Universum. Seine Kommentare haben sich wiederholt diametral vom sonst allgegenwärtigen strammen Linksgrün-Kurs abgehoben (etwa hier und hier).
Schon der Beginn des entscheidenden Beitrags in der Sondersendung (anzusehen hier ab Minute 11.55) riss sicher viele Zuschauer aus ihrem öffentlich-rechtlichen Halbschlaf. Da wird das ständige Schüren von Alarmstimmung in den Medien durch Infektionszahlen thematisiert. Auch im eigenen Kanal. Und dann wird diese Methode kritisch hinterfragt. Professor für Virologie Hendrik Streeck warnt: „Die Infektionszahlen sagen nur bedingt etwas aus, weil nur ein geringer Anteil eine medizinische Versorgung braucht.“
[themoneytizer id=“57085-1″]„Wir sollten versuchen, von dieser Zahl wegzukommen“, mahnt dann Prof. Dr. Torsten Bauer, Leiter einer Berliner Lungenklinik, dessen Covid-19-Station seit zwei Wochen fast leer steht, wie der Sprecher erklärt, „ebenso wie in vielen Krankenhäusern in Deutschland“. Immer nur die Zahl der Neuinfektionen zu verbreiten, hält der Professor für „wenig aussagekräftig“, heißt es: „Ich als Mediziner hätte gerne dagegen gespiegelt die Zahl der Krankenhaus-Aufnahmen, weil die absolute Infektionszahl für den Mediziner ja nur sagt, wie viele haben sich infiziert, aber nicht, wie viele waren krank, und wir müssen wissen, worauf müssen wir uns im Krankenhaus einstellen“, so Bauer.
Sodann blendet die ARD Grafiken ein, für deren Verbreitung man bislang noch damit rechnen musste, als „Covidiot“ beschimpft zu werden. Da wird gezeigt, wie massiv die Zahl der Infizierten seit dem Frühjahr gesunken ist, und wie trotz deren leichtem Anstieg in den vergangenen Wochen die Zahl der Krankenhausaufenthalte gleich gering bleibt:
Statt 20 Prozent der Infizierten werden derzeit nur noch sechs Prozent in einer Klinik behandelt, heißt es in dem Beitrag: „Der jüngste Anstieg der Neuinfektionen führt derzeit nicht zu mehr Krankenhauseinweisungen, weil sich überwiegend junge Menschen anstecken, die wenig oder gar nicht erkranken. Deshalb wären auch steigende Neuinfektionen zunächst kein Problem.“ Streeck erläutert, alle Virologen würden damit rechnen, dass sich die Zahl der Infektionen massiv erhöhen werde in den nächsten Wochen: „20.000 Neuinfektionen pro Tag, das klingt erst mal nach Apokalypse, das sind enorme Zahlen, aber im Grunde sollte uns das keine Angst machen, weil ein milder Verlauf oder ein Verlauf ohne Symptome nicht so stark zum Infektionsgeschehen beiträgt .“ Bemerkenswert: Streeck entkräftet in der ARD zur besten Sendezeit genau das Schreckensszenario von Merkel – unter Nennung der identischen Zahl. Faktisch eine dezente, aber schallende Ohrfeige für die Kanzlerin.
„Auch in den rund 30.000 Intensivbetten an deutschen Krankenhäusern liegen im Moment nur 447 Infizierte“, setzt der Sprecher fort: „9534 Menschen sind in Deutschland von März bis Anfang Oktober an oder mit dem Corona-Virus gestorben. Klingt dramatisch. Was die meisten Menschen aber nicht wissen: In Deutschland sterben im Schnitt jede Woche zwischen 16.000 und 20.000 Menschen, etwa an Herzinfarkten oder an Krebs. Im Corona-Jahr 2020 starben insgesamt bis Mitte März weniger Menschen als im Durchschnitt der Vorjahre, im April durch Corona für wenige Wochen deutlich mehr, ab Ende April starben nicht mehr als üblich, der Anstieg Mitte August lag an der Hitze, was die nächste Kurve zeigt.“ Sodann wird die Sterbegrafik eingeblendet:
Andreas Gassen, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung, sagt dann das Ungeheuerliche: „In Deutschland gibt es keine Übersterblichkeit. Das heißt verkürzt: Es sterben nicht mehr Menschen als in jedem normalen Jahr ohne Corona.“ Wenn das der hauseigene Faktenfinder im gleichen Haus mitbekommt, der in einem Beitrag vom April eine massive Übersterblichkeit betonte:
Dieser Beitrag mag aus damaliger Sicht korrekt gewesen sein, allerdings sind auch keine Faktenfinder-Beiträge zu finden, die diesen später relativiert und darauf verwiesen hätten, dass es eben insgesamt keine Übersterblichkeit gibt. Und hier stellt sich die Frage: Kommt das Unterlassen einer Korrektur bzw. Aktualisierung einer Fehlinformation gleich? Auch andere selbst ernannte Faktenfinder wie etwa Correctiv zünden regelrechte sprachliche Nebelgranaten, die zumindest beim flüchtigen Leser den Eindruck erwecken, es gebe eine Übersterblichkeit.
Ob die „Faktenfinder“ sich jetzt auch auf die ARD stürzen werden?
In deren Beitrag geht es im gleichen „ketzerischen“ Duktus weiter. Professor Streeck fordert: „Wir müssen eine Normalität finden.“ Jedem schwer Erkrankten müsse die bestmöglichste medizinische Versorgung verschafft werden. Aber: „Das Virus wird nicht mehr aus dem Menschen ausgetrieben werden können. Wir müssen anfangen, mit dem Virus zu leben.“
Es gehe nun darum, die Risikogruppen zu schützen, und das könne der Einstieg in eine neue Phase sein, das Leben mit dem Virus, so der Schluss des Beitrages.
Sodann wird noch die Professorin Ursel Heudorf interviewt. Die Frage an sie: Welche Gefahr sie in der Konzentration auf die Zahlen der Neuinfektionen sehe. Die Medizinerin betont, es habe eine Entkopplung stattgefunden zwischen Infektionen und Krankenhauseinweisungen bzw. Todesfällen: „Wir müssen die Bevölkerung differenziert informieren, nicht nur über die Zahl der positiv Getesteten oder Infizierten, sondern tatsächlich über die Zahl der schweren Fälle, d. h. wir müssen mitberichten über die Krankenhaus-Einweisungen (…) Es wird leider zu wenig in der Allgemeinbevölkerung darüber berichtet. Wir sollten darüber berichten, dass zur Zeit sehr wenige Leute in die Krankenhäuser müssen und auch sehr wenige sterben.“
Weiter sagt die Professorin: „Sie haben die Zahl von 9500 Todesfällen berichtet. Dazu kann man noch mehr sagen, nämlich dass 9000 von diesen 9500 verstorben sind vor Juli, und in den letzten drei Monaten, obwohl wir einen Anstieg von 100.000 haben, nur 500. Da hat eine große Entkopplung stattgefunden, und die muss mehr kommuniziert werden!“ Dann fordert die Medizinerin: „Jetzt muss man sich fragen, ist es weiter sinnvoll, diese Containment-Strategie fortzuführen“, also harte Maßnahmen, „oder muss man langsam in die zweite Phase, nämlich dass wir mehr unsere Anstrengung fokussieren auf den Schutz der vulnerablen Gruppen“, also etwa von Alten und Vorerkrankten. In Frankfurt sei der letzte Insasse eines Alten- und Pflegeheims im Juni verstorben, so die Professorin. Einzelne Infektionen seien nicht zu verhindern, aber eine Ausbreitung: „Das haben wir gelernt.“
Ist diese Sendung eine Eintagsfliege? Wird da ein Kurswechsel eingeläutet? Oder hat da nur ausnahmsweise wie in alten Zeiten Meinungsvielfalt innerhalb des Senders zugeschlagen – so wie es die Grundidee des Gebührenfernsehens ist?
Flüchtigkeitsfehler bitte ich zu entschuldigen (und freue mich auf Korrekturhinweise), da ich diesen Beitrag noch spät nachts bzw. schon morgens fertigstellte. Ich konnte von dem Thema einfach nicht ablassen und habe es der Müdigkeit abgetrotzt. Eine Schwalbe macht zwar noch keinen Sommer. Aber wir haben viel zu wenige Schwalben. Und umso mehr freut man sich über eine einzelne.
PS: Interessant, welch einen „Shitstorm“ der ARD-Beitrag in den sozialen Medien auslöste:
Bild: Screenshots ARD
[themoneytizer id=“57085-2″]Text: red